Die Akte Daniel (German Edition)
Unterrichtsschluss. Ich werde mich darum kümmern, dass du ein Zimmer bekommst und fürs Erste die Schuluniform und ein paar andere Sachen, damit du dich auch umziehen kannst. Alles ganz unverbindlich.«
Die Tür öffnete sich und ein schmaler junger Mann im weißen Ärztekittel kam herein. Er nickte Daniel freundlich zu. »Mein Name ist Johnson, ich bin der Assistent von Doktor Fearman. Ich nehme dir den Tropf ab. Aber der Doktor will dich morgen noch ein paar Stunden damit ernähren; es wird dir helfen, schnell wieder zu Kräften zu kommen. Nimm heute Abend möglichst viele Vitamine und Ballaststoffe zu dir. Nudeln, Salat, und so weiter.«
»Danke, das werde ich tun«, versprach Daniel. Er zog sich mit Hilfe von Mrs. Terranto den Pullover über. Die Kanüle behinderte ihn noch ein wenig, aber ohne den Tropf ging es eindeutig besser. Mrs. Terranto ermunterte ihn, sein Krankenzimmer ruhig zu verlassen und sagte, dass sie ihn schon finden würde, wenn sein Zimmer bereit sei. Ansonsten könnte er sich an jeden wenden, den er im Haus antraf. Und außerdem sollte er sich alles genau anschauen und weiter seine Neugier befriedigen.
Derartig eingeladen bedankte Daniel sich bei Mrs. Terranto und machte sich wieder auf Entdeckungstour. Ihm fiel ein, dass Sunday etwas von einer Bibliothek erwähnt hatte. Lesen, einfach zum Vergnügen, war etwas, dass Daniel selten getan hatte. Die Bücher für die Schule hatten ihn nie sonderlich interessiert, und er hatte in seiner Gegend nicht noch mehr als Sonderling gelten wollen, indem er sich in der Bücherei herumtrieb. Aber hier war das etwas ganz anderes. Hier waren alle irgendwie anders als alle Menschen, die er je angetroffen hatte.
Relativ mühelos fand Daniel die große Vorhalle mit den Säulen wieder und stellte fest, dass eine große Messingtafel mit kleinen Pfeilen den Weg zu den wichtigsten Räumen wies, unter anderem auch zur Bibliothek. Guter Dinge ging Daniel in die Richtung und streifte bis zum Abend in der riesigen, mit alten und neuen Büchern bestückten Bibliothek herum.
Zum ersten Mal in seinem Leben war Daniel einfach nur glücklich und dabei schaffte er es nicht einmal, eines der Bücher wirklich zu lesen. Aber das zählte nicht. Es reichte, dass er hier war.
5
Hauptsitz der Kage no Kiseki, Whitefriars Street, London
Jason Ghosts Schritte führten ihn in die oberste Etage des Gebäudes der Japan Foundation . Hier war einer der Sitze der Kage no Kiseki, die überall auf der Welt verstreut lagen. Jedoch firmierte sie immer nur unter dem Namen der Foundation , deren Mitarbeiter mitunter keine Ahnung hatten, was sie alles noch so unter ihrem Dach beherbergte.
Der Ordo Divinatio nannte die Kage no Kiseki nur abfällig »die Firma« und verwiesen dabei auf den angeblichen Größenwahn der Foundation . Doch hier sprach eindeutig der Neid über die Erfolge, die man selbst erzielen wollte. Anderes konnte sich Jason nicht vorstellen. Im Moment jedoch konnte er keinen eigenen Erfolg vorweisen. Im Gegenteil, er hatte versagt.
Jason wusste, dass das unvermeidliche Gespräch hier und heute äußerst unangenehm werden würde und im Zweifel für ihn tödliche Konsequenzen hatte. Die Foundation hatte ihre Anlage in Hampshire verloren und das nicht nur still und leise, sondern mit einer riesigen Explosion. Es gab Fragen und die Presse witterte eine Sensation – mindestens einen Skandal – militärischer Art wohlgemerkt. Und das alles nur wegen eines kleinen Jungen, an dem die widerlichen Weltverbesserer des Ordo ebenfalls Interesse hatten. Entweder wurde der Ordo besser, oder Jason hatte wirklich einen kolossalen Fehler gemacht und war zu selbstsicher, zu leichtsinnig gewesen. Fehler, die er sich nicht erlauben durfte. Aber selbst wenn es am Ordo lag, so würde er sein Versagen nicht abstreiten können. Dann hätte er das melden und die entsprechende Verstärkung herbeirufen müssen.
Jason hielt vor einer doppelflügeligen Tür am Ende des Ganges an, wartete kurz auf das knappe »Herein« und trat dann ein. Das Büro dahinter war groß, aber karg eingerichtet. Die Wände waren mit Bücherregalen zugestellt, ein monströser Schreibtisch stand in der Mitte. Dahinter saß ein blasser junger Mann mit langen weißen Haaren in einem schwarzen Anzug. Als er aufsah, gaben seine langen Ponysträhnen kurz einen Blick auf ein paar vertikale Narben auf der rechten Gesichtshälfte frei. Doch das war nicht das einzige Beunruhigende an seiner Erscheinung. Seine kalten
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