Die Akte Golgatha
Rede versetzte Francesca in große Aufregung. Nervös blickte sie zu Gropius hinüber, der am Nachbartisch mit dem Rücken zu ihr saß. Sie sah, dass die Zeitung in seinen Händen zitterte wie ein Grashalm im Frühlingswind, und daraus schloss sie, dass Gregor jedes Wort verstanden hatte. Gleichzeitig wurde ihr bewusst, dass sie viel zu unbedarft an das Treffen herangegangen war. Wie um Himmels willen sollte sie jetzt reagieren? Wie sollte sie Sheba das Geheimnis um die Stoffprobe entlocken, ohne sich dabei selbst zu verraten?
Shebas Stimme klang plötzlich verändert. Kühl, beinahe geschäftsmäßig sagte sie: »Ich weiß, dass Sie die Probe nicht bei sich tragen, aber vielleicht können wir einen neuen Termin für die Übergabe vereinbaren.«
Es hätte nicht viel gefehlt, und Francesca wäre in schallendes Gelächter ausgebrochen, weil ihr die erste Begegnung mit Gropius in Berlin in den Sinn kam. Damals hatte Gropius versucht, etwas über den Inhalt der Stahlkassette zu erfahren, die sie im Gepäck hatte. Und damals wie heute hatte sie keine Ahnung, worum es dabei ging.
»Ja, natürlich«, antwortete Francesca, »ich schlage vor morgen, selber Ort, gleiche Zeit, wenn es Ihnen recht ist!«
»Einverstanden. Sie erhalten dann von mir zwanzigtausend Euro in bar.«
Die Geschäftsmäßigkeit, mit der die Unterredung ablief, machte Francesca Angst. Mit jedem Satz wuchsen ihre Bedenken, ob und wie sie aus dieser Situation wieder herauskommen sollte. Und zu allem Überfluss stellte Sheba auch noch plötzlich die Frage: »Kannten Sie eigentlich Arno Schlesinger?«
Die schlichte Frage trieb Francesca das Blut in den Kopf. Hatte Sheba Verdacht geschöpft? War es eine Fangfrage? Antwortete sie mit Nein, und Sheba wusste, dass Schlesinger der Signora begegnet war, dann hatte sie sich verraten. Sagte sie Ja, dann musste sie damit rechnen, dass Sheba sie über Schlesinger ausfragte. In einem Akt der Verzweiflung setzte Francesca alles auf eine Karte und erwiderte: »Leider nein, Professore de Luca und Mr. Schlesinger haben immer persönlich miteinander verhandelt. Ich kann mich nicht erinnern, ihm jemals begegnet zu sein, obwohl er sich sogar ein- oder zweimal in unserem Institut aufhielt.«
»Er war ein wunderbarer Mann«, schwärmte Sheba, den Blick zur Decke gerichtet, als wollte sie ihre Tränen verbergen. »Er war mein Lehrer, und ich habe mich gleich bei der ersten Begegnung in ihn verliebt.«
»Entschuldigen Sie, wenn ich Sie das frage: War Mr. Schlesinger nicht verheiratet? Ich glaube, de Luca erwähnte es einmal gesprächsweise.«
»Er lebte in Scheidung. Seine Frau hatte kein Verständnis für ihn und seinen Beruf. Im letzten Jahr seines Lebens hat er mehr Zeit mit mir als mit seiner Frau verbracht. Nein, geliebt hat er nur mich! Mich!«
»Sie sind Archäologin, Miss Yadin?«
»Bibelarchäologin.«
»Interessant. Und was erhoffen Sie sich von der Analyse der Stoffprobe, wenn ich fragen darf?«
Es schien, als fühlte sich Sheba in die Enge getrieben. Um Zeit zu gewinnen, nippte sie mehrmals kurz an ihrem Kaffeeglas, und ohne ihr Gegenüber anzusehen, erwiderte sie: »Eine komplizierte Geschichte, die noch eingehender Forschungsarbeit bedarf. Es würde zu weit gehen, das zu erklären. Und ich will Sie auch nicht langweilen.«
»Sie langweilen mich keineswegs. Es ist immer interessant zu sehen, wie verschiedene Wissenschaften sich untereinander ergänzen.«
Freundlich nickend blickte Sheba auf die Uhr und, als sei sie in großer Eile, sagte sie: »Also dann bis morgen, gleiche Zeit!« Sie erhob sich und verließ das Lokal.
Gropius ließ die Zeitung sinken und drehte sich um.
»Gut gemacht, Francesca«, meinte er augenzwinkernd. »Ich habe da einen Plan. Du kennst jetzt Sheba Yadins Sprechweise. Rufe Signora Selvini in de Lucas Institut an, melde dich mit Sheba Yadin und sage, du hättest dich leider verspätet, ob es möglich sei, morgen um elf vorbeizukommen, du würdest die ausstehenden zwanzigtausend Euro mitbringen.«
Francesca wiederholte, was Gropius ihr aufgetragen hatte; dann zog sie ihr Mobiltelefon aus der Tasche und ging nach draußen. Als sie zurückkehrte, meinte sie: »Alles in Ordnung. Morgen um elf erfolgt die Übergabe. Vorausgesetzt, du hast das Geld flüssig!«
»Das lass nur meine Sorge sein«, antwortete Gropius, und beinahe schüchtern fügte er hinzu: »Signora Colella, haben Sie heute Abend schon etwas vor?«
Nach einem opulenten Dinner im Restaurant von Gropius' Hotel, bei dem
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