Die Akte Golgatha
wie es war, und irgendwo mit Francesca ein neues Leben zu beginnen.
Lange Zeit brachte er kein Wort hervor, sodass sich Francesca vorsichtig erkundigte: »Gregor, bist du noch da?«
»Ja, ja«, erwiderte Gropius verstört, »verzeih, ich bin ziemlich durcheinander. Irgendwie ist das ein schlechter Zeitpunkt für Liebeserklärungen. Ich muss immer an Schlesingers Entdeckung denken.«
»Du brauchst dich nicht zu entschuldigen. Im Gegenteil, es war dumm von mir, dich gerade jetzt mit meinen Gefühlen zu belästigen.« Und ohne Übergang fügte sie hinzu: »Was das Turiner Grabtuch betrifft, gehen die Expertenmeinungen meines Wissens auseinander, die einen sprechen von einer Fälschung, die anderen bezeugen seine Echtheit.«
»Das glaubte ich bisher auch; doch Avocato Felici berichtete, bei einer naturwissenschaftlichen Untersuchung 1988 sei von Experten zweifelsfrei festgestellt worden, dass das im Turiner Dom aufbewahrte Grabtuch aus der Zeit um 1300 stammt. Du weißt, was das bedeutet?«
»Ich kann es mir denken.«
»Signora Selvini hat uns für zwanzigtausend Euro einen wertlosen Fetzen Stoff verkauft.«
Zögernd und nach einer längeren Pause fragte Francesca: »Woher will Felici das so genau wissen? Er ist doch Anwalt und kein Forscher!«
»Felici war erstaunlich gut informiert, für meinen Geschmack sogar zu gut. Er wartete mit Details auf, die er im Kopf behielt, seit er zwei Mafiosi verteidigte, die 1987 in den Turiner Dom eindrangen und ein Stück des Grabtuches entwendeten.«
»Ja, ich erinnere mich. Es ist lange her. Der Fall machte damals Schlagzeilen, weil niemand verstand, warum die Gangster nicht das ganze Grabtuch entwendet, sondern nur ein kleines Stück herausgeschnitten hatten.«
»Wurde der Fall je geklärt?«
»Ich weiß es nicht. Ehrlich gesagt hielt sich mein Interesse für Grabtücher damals in Grenzen. Nur eines verstehe ich nicht. Wenn allgemein bekannt war, dass es sich bei dem Grabtuch um eine Fälschung handelt, warum haben sich dann so viele Leute dafür interessiert? Warum waren Schlesinger und andere bereit, für ein paar Quadratzentimeter so viel Geld hinzulegen?«
»Gute Frage. Vielleicht müsste man mehr wissen über die Forschungen an dem Grabtuch.«
»Es gibt da in der Nähe der Universität ein Institut, die ›Società di Sindonologia‹, wo alle Veröffentlichungen und Forschungen über das Grabtuch archiviert werden. Die Gesellschaft gibt sogar eine Zeitschrift heraus: Shroud Spectrum . Soviel ich weiß, ist das Institut öffentlich zugänglich.«
»Würdest du mich morgen dorthin begleiten?«
»Mit Vergnügen!«, antwortete Francesca.
Gropius hatte nichts anderes erwartet.
Die ›Società di Sindonologia‹ lag versteckt in einer dunklen Seitenstraße in einem Haus aus dem vorvorigen Jahrhundert, wuchtig, kalt und bedrohlich. Mehrere Schilder übereinander verwiesen auf weitere Institutionen, die das Gebäude beherbergte. Im Hausflur wehte den Besuchern ein klammer Luftzug entgegen, der jeden frösteln machte, der das Haus zu betreten wagte.
Die Società lag im ersten Stock. Ein Messingschild an der zweiflügeligen, weiß gestrichenen Tür mit den Buchstaben SdS in einem Kreis wies auf die Öffnungszeiten hin. Gropius drückte auf den Klingelknopf. Erwartungsvoll zog Francesca die Augenbrauen hoch.
Der elektrische Türöffner schnarrte und gab den Weg frei in einen kahlen Vorraum, eine Art Wartezimmer mit uralten Holzstühlen unterschiedlicher Provenienz und einem großen runden Tisch mit Zeitschriften in der Mitte. Rechter Hand an der Wand eine überdimensionale Fotografie des Turiner Grabtuches. Es roch nach vergilbtem Papier. Kein Lebenszeichen, sah man von einer eingestaubten Fächerpalme zwischen den Fenstern einmal ab, störte die Eintönigkeit.
Links stand eine Tür offen, und man konnte in einen langen blank gebohnerten Korridor blicken, und da sich niemand für sie zu interessieren schien, beschlossen Gropius und Francesca, sich etwas umzuschauen. Der Parkettboden ächzte unter ihren Tritten, und plötzlich tat sich vor ihnen ein düsterer Saal auf, Bibliothek auf der einen, Archiv auf der anderen Seite, und mit zwei Reihen Lesetischen in der Mitte. Auf jedem eine Lampe mit grünem Glasschirm.
»Was kann ich für Sie tun?« Aus dem Hintergrund tönte eine dünne Stimme. Im Zwielicht des Saales erkannten sie einen alten Mann. Klein und eingefallen blickte er ihnen hinter einem alten Schreibtisch entgegen. Dabei schwenkte er einen Bogen Papier in der
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