Die Akte Golgatha
setzten ihren Weg fort. »Dann frage ich mich allerdings, wer für Felici aufkommen will. Anwälte arbeiten bekanntlich nicht für Gotteslohn, und Staranwälte schon gar nicht.«
»Irgendjemand scheint dringend daran interessiert zu sein, dass du in Freiheit bist«, bemerkte Francesca und hakte sich bei Gregor unter. »Wer könnte das sein? Und aus welchem Motiv heraus?«
Gropius schüttelte den Kopf. »Es muss etwas mit Schlesingers Tod zu tun haben. Obwohl …«
»Obwohl?«
»Nun ja, bisher hatte man eher Interesse daran, dass ich meine Nachforschungen einstelle. Gropius in Untersuchungshaft hätte diese Forderung durchaus erfüllt. Warum sollte mich Avocato Felici also wieder herausholen? Rätselhaft, findest du nicht?«
»Mehr als rätselhaft! Hast du Felici nicht nach seinem Auftraggeber gefragt?«
»Natürlich habe ich das. Ich wollte wissen, ob du ihn geschickt hättest, aber er gab mir keine Antwort. Irgendetwas geht hier nicht mit rechten Dingen zu.«
In einem Straßencafe nahe dem Palazzo Reale tranken sie einen Cappuccino. Die Sonne warf lange Schatten auf das Pflaster. Francesca fröstelte.
Im ›Méridien‹ bezog Gregor Gropius dasselbe Hotelzimmer, das er tags zuvor verlassen hatte. Francesca hatte Verständnis dafür gezeigt, dass er allein sein wollte. Sie zeigte überhaupt viel Verständnis für sein Verhalten. Das hatte er von Anfang an als wohltuend empfunden. Anders als Felicia hatte sie ihm noch nie irgendwelche Vorwürfe gemacht, obwohl es gewiss den einen oder anderen Anlass gegeben hätte. Keine Frage, Francesca war eine bemerkenswerte Frau.
Als er sein Jackett auszog, fanden seine Gedanken an Francesca ein jähes Ende. Aus einer Seitentasche zog Gropius einen Zettel, drei Wörter, die er nach dem Gespräch mit dem Avocato notiert hatte, die Namen der Mafiosi aus dem Dorf Vincoli. Mit dem Riecher eines Spürhundes, der eine bestimmte Witterung aufgenommen hat und durch nichts von seiner Fährte abzubringen ist, hoffte Gropius eine neue Spur zu finden: ein kühner Gedanke, dass zwischen dem Einbruch im Dom und Schlesingers Tod eine direkte Verbindung bestehen sollte.
Polacca, Focarino, Vincoli. Gropius ließ den Zettel durch die Finger gleiten. Wenn, wie Pasquale Felici behauptet hatte, die beiden Mafiosi im Auftrag eines Dritten gehandelt hatten – und davon durfte man ausgehen –, so stellte sich die Frage nach dem Auftraggeber. Ebenso aber nach dem Motiv. Sicher wusste der geheime Auftraggeber noch nicht, dass das vermeintliche Grabtuch des Jesus von Nazareth erst zwölfhundert Jahre nach dessen Tod gewebt wurde. Sonst machte der Diebstahl keinen Sinn.
Rastlos wühlte Gropius in seinem Gedächtnis, versuchte Dinge zusammenzusetzen, die scheinbar in keinem Zusammenhang standen, und dabei stieß er mehr als einmal auf eine Blockade, eine Warnung, die sein Hirn aussandte: Falsche Fährte.
In jedem Menschen, dachte er, treten irgendwann seine masochistischen Züge zutage. Manche Leute kompensieren sie mithilfe der Religion, andere bedienen sich einer Domina, du suchst dir deinen eigenen Weg. Also gehe ihn.
Das Telefon erlöste Gropius aus seinen selbst auferlegten Qualen.
»Francesca, du?« Gregor klang ziemlich verwirrt.
»Hast du jemand anderen erwartet?«
»Nein, nein, ich bin nur etwas durcheinander.«
»Weil du so schnell wieder freigekommen bist?«
»Das auch. Aber noch mehr beschäftigt mich die Frage, seit wann bekannt ist, dass es sich bei dem Turiner Grabtuch um eine mittelalterliche Fälschung handelt.«
Nach einer langen Pause, in der beide dem Atem des anderen lauschten, antwortete Francesca lachend: »Na du stellst vielleicht Fragen!«
»Entschuldige. Aber ich war so in meine Gedanken vertieft. Was gibt es?«
»Nichts«, erwiderte Francesca mit der ihr eigenen Offenheit, »das heißt, ich wollte dir nur sagen, dass ich dich liebe. Heute Nachmittag hatte ich keine Gelegenheit dazu.«
Der Klang ihrer Worte hatte etwas Rührendes, etwas, was ihrer distanzierten Erscheinung völlig entgegenstand.
»Ich mag dich auch«, antwortete Gregor. Er war selbst überrascht von seiner plötzlichen Offenheit. Aber sollte er leugnen, dass Francesca bei ihm etwas ausgelöst hatte, wogegen er sich lange mit Vehemenz gewehrt hatte, etwas, das über die sexuelle Anziehungskraft weit hinausging? Vergeblich versuchte Gropius seinen Gedanken Einhalt zu gebieten, Gedanken, die darum kreisten, das unerklärbare Geschehen der letzten Monate einfach hinzunehmen, es sein zu lassen
Weitere Kostenlose Bücher