Die Akte Golgatha
gerade mal tausend Euro ging, ließ ihn tagelang nicht schlafen. Nein, zu Geld hatte Arno kein gesundes Verhältnis, und hätte sie selbst nicht gut verdient, ihr Lebensstandard wäre viel bescheidener gewesen.
Zum wiederholten Mal zog Felicia den Kontoauszug aus dem braunen Umschlag und las halblaut die Summe vor, als wollte sie sie verinnerlichen: zehnmillionendreihundertsiebenundzwanzigtausendvierhundertsechzehn. Für einen Altertumsforscher war die Summe so aberwitzig und unrealistisch, dass sein Tod in irgendeinem Zusammenhang mit dem Geld stehen musste.
Vielleicht, dachte Felicia, wäre es besser, die Sache auf sich beruhen zu lassen. Vielleicht sollte sie Arno ein würdiges Begräbnis bereiten und mit den Millionen ein neues Leben beginnen, aber eine peinigende Neugierde trieb sie dazu, nach der todbringenden Geldquelle zu suchen. Auch – dessen war Felicia sich von Anfang an bewusst – wenn sie sich dadurch selbst in Gefahr bringen sollte.
In Arnos Arbeitszimmer, dessen Wände, bis auf das breite Fenster mit Ausblick zum See, Bücherregale ausfüllten, gab es, von Folianten eingerahmt, einen offenen Aktenschrank, aus dem, festgehalten auf Stößen eng beschriebenen Papiers, die Arbeit eines halben Lebens hervorquoll. Sie hätte nie gewagt, auch nur ein Blatt herauszuziehen oder sich nach dem Inhalt dieser oder jener Aufzeichnung zu erkundigen. Dazu hatte sie zu viel Ehrfurcht vor Arnos Arbeit. Sie stand seinen Forschungen nie gleichgültig gegenüber, im Gegenteil, Felicia hätte sich manches Mal gewünscht, mehr an seiner faszinierenden Arbeit teilzuhaben.
Selten genug hatte er von seinen Ausgrabungen berichtet und von den Theorien, die sich aufgrund gewisser Funde ergaben. Dann hatte Schlesinger in einem Tonfall geredet, als sei er ein anderer, als käme er aus einer anderen Welt, und sie hatte ihm mit leuchtenden Augen zugehört wie ein Kind einem Märchenerzähler.
Felicia musste schmunzeln, als ihr der Satz in den Sinn kam, den Arno einmal zu Beginn ihrer Ehe gesagt hatte: Archäologen, hatte er mit ernstem Gesicht verkündet, dürfen von gestern sein und von morgen, nur nicht von heute. Es hatte damals einiger Zeit bedurft, Schlesingers Worte zu begreifen, aber allmählich war ihr aufgegangen, was er damit sagen hatte wollen, und sie hatte sich mit seinem oft seltsamen Verhalten abgefunden.
Die Unordnung, die man unter den Bergen von Papier vermuten konnte, war nur eine scheinbare, wie auch das Chaos in einem Ameisenhaufen nur scheinbar ist. In Wahrheit lebte Schlesinger mit den bisweilen sogar grotesken Zügen eines Pedanten, etwa, wenn jedes Objekt auf seinem Schreibtisch aus der Gründerzeit seinen exakten Platz beanspruchte. Arno hätte mit verbundenen Augen vor den Aktenschrank treten können und mit sicherem Griff das gewünschte Papier hervorgezogen – eine Fähigkeit, für die Felicia ihren Mann bewunderte.
Sich mit den Akten näher zu beschäftigen, erschien Felicia sinnlos, zumal die einzelnen Fächer ohnehin sorgfältig beschriftet und die Papierstöße mit Klebezetteln versehen waren. Sie trugen Aufschriften, die nur Eingeweihten etwas sagten, wie Gebel Musa oder Sinai oder Qumran oder Boghazköi. Dass die zehn Millionen ausgerechnet hier zwischen diesen Stößen eine Spur hinterlassen haben sollten, das konnte Felicia sich wirklich nicht vorstellen. Vor allem wusste sie nicht, wie ein solcher Hinweis überhaupt aussehen sollte.
Licht ins Dunkel konnte am ehesten die Schweizer Bankgesellschaft in Zürich bringen, die das Millionenkonto verwaltete. Also flog Felicia in die Stadt am gleichnamigen See, die sie gut kannte, weil mehrere ihrer Kunden dort lebten. Die Glitzerwelt der Bahnhofstraße, wo sich Cartier, Ferragamo und Louis Vuitton zwischen die Paläste der Banken und Versicherungen drängten, hatte sie stets weit weniger fasziniert als die Tatsache, dass unter dem Pflaster Gold und Devisen ruhten, genug, um die halbe Welt zu kaufen.
Die Halle der vornehmen UBS glich eher einem Ballsaal bei Tageslicht als der Schalterhalle einer Bank, und die Zuvorkommenheit, mit der die Banker ihren Kunden begegneten, war dem Umsatz, den das Unternehmen erzielte, angemessen. Gegenüber einem älteren Herrn mit randloser Brille, sein dunkler Anzug und die silberfarbene Krawatte ließen Zweifel aufkommen, ob er nicht im Hauptberuf ein Kammerorchester dirigierte, wäre da nicht dieses silberne Schild am Revers gewesen mit der Aufschrift ›Herr Nebel‹, gegenüber diesem an vergeistigter
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