Die Akte Golgatha
der ließ sich bereitwillig zu einer der Türen auf der rechten Seite führen. Francesca öffnete sie. Im Innern des kleinen Zimmers brannte Licht. Gropius erschrak.
In einem Bett an der gegenüberliegenden Wand lag halb aufgerichtet ein Mann mit dunklen Haaren und bleichem Gesicht. Er zeigte keine Regung. Seine Augen waren weit geöffnet, ebenso sein Mund, die Arme lagen geradlinig auf der weißen Decke.
»Mein Mann Constantino«, sagte Francesca tonlos, und ohne Gropius anzusehen, fuhr sie fort, »er hatte vor einem halben Jahr einen Autounfall, seither liegt er im Wachkoma. Was das bedeutet, brauche ich Ihnen ja nicht zu erklären.« Sie sagte es ohne jede Bitterkeit.
Gropius schnappte nach Luft. Diese Frau brachte ihn total aus der Fassung. Noch vor einem Augenblick hatte er sie begehrt. Bedenkenlos war er ihr in ihre Wohnung gefolgt in der Absicht, mit ihr zu vögeln. Und Francesca, hatte er gedacht, sei einem Abenteuer nicht abgeneigt. Und nun?
Gregor Gropius fühlte sich erbärmlich. Ihm wurde klar, dass Francesca die peinliche Situation sorgfältig inszeniert hatte, um sich ihn ein für alle Mal vom Leibe zu halten. Nun deckte Scham seine Lüsternheit zu. »Entschuldigen Sie mein ungebührliches Verhalten«, stammelte er leise, kaum verständlich.
»Sie können ruhig laut reden«, entgegnete Francesca, »er kann uns nicht hören – behaupten jedenfalls die Ärzte.«
Gropius wandte sich ab, er vergrub die Hände in den Taschen, und den Blick auf das dunkle Fenster gerichtet, sagte er: »Ich weiß nicht, was Sie jetzt von mir halten, aber ich konnte doch nicht ahnen …«
»Natürlich nicht«, unterbrach ihn Francesca. »Ich mache Ihnen keinen Vorwurf. Es gibt Situationen im Leben, da wird jedes Gefühl von der Realität ausgelöscht.« Sie machte Anstalten, die Tür zu schließen, aber bevor sie die Klinke niederdrückte, steckte sie den Kopf durch den Spalt, als wollte sie nochmals nach dem Rechten sehen.
Ratlos, wie er sich verhalten sollte, stand Gropius herum, unfähig eine Entscheidung zu treffen. Francesca hatte ihn deutlich in seine Schranken verwiesen. Sie hatte ihm eine Ohrfeige verpasst, ohne ihn sichtbar zu verletzen. Dabei wusste sie ganz genau, dass Ohrfeigen, die nicht wehtun, im Innersten weit größeren Schmerz verursachen, eine Pein, die man oft jahrelang mit sich herumschleppt. Er hatte das Bedürfnis zu reden, Francesca zu erklären, wie sehr sie auf ihn gewirkt hatte und dass er keineswegs die Absicht gehabt habe und so weiter und so weiter. Doch jede Erklärung erschien ihm unangemessen. Und aus dieser Ratlosigkeit heraus, aus dem Gefühl, der Situation nicht gewachsen zu sein, reagierte Gropius linkisch, ungeschickt wie ein Pennäler. »Ja, dann ist es wohl besser, wenn ich jetzt gehe«, stammelte er.
Francesca sah ihn nur an und schwieg.
Wie benommen fuhr Gropius mit dem ächzenden Aufzug nach unten. Das kurze Stück bis zum Corso Lombardia legte er im Laufschritt zurück. Ihm schien es, als liefe er vor sich selbst davon. An der Ecke bestieg er ein Taxi und fuhr zu seinem Hotel.
Der nächste Morgen. Einen Augenblick lang, während er allmählich vom Schlaf in den Wachzustand emportauchte, überkam Gropius eine angenehme Erinnerung an Francesca, aber dann meldete sich sein Gedächtnis und wie eine schwere Last bedrückte ihn die Erinnerung an die vergangene Nacht. Er war wütend auf sich selbst, ein Zustand, der ihm für gewöhnlich fremd war.
Das Frühstück, schlicht wie in Italien üblich, nahm Gropius auf dem Zimmer ein. Er wollte niemanden sehen. Während er die Pfirsichmarmelade mit dem Löffel auf das angetoastete Weißbrot kleckste, musterte er Francescas Visitenkarte, das heißt, er betrachtete die Rückseite, auf der sie Namen, Adresse und Telefonnummer de Lucas notiert hatte.
Gropius überlegte, ob er Luciano de Luca anrufen und seinen Besuch ankündigen sollte, doch dann traf er die Entscheidung, den Professore vor vollendete Tatsachen zu stellen. Schließlich wusste er nicht, wie er sich mit ihm verständigen konnte und wie er auf die Nachricht von Schlesingers Tod reagieren würde.
Der Fahrer, der ihn zu de Lucas Institut am jenseitigen Po-Ufer brachte, war guter Dinge. Er fuhr einen alten FIAT aus den achtziger Jahren, was ihn jedoch nicht an seinem Glauben hinderte, einen Rennwagen zu besitzen. Jedenfalls startete er an jeder Ampel mit quietschenden Reifen und rief dazu verzückt: »O lala, Ferrari!«
Nachdem er den Po überquert hatte, fuhr er den Corso
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