Die Akte Golgatha
in den nächsten Minuten, malte er sich aus, würde ein Mann in den kahlen Raum treten, eine Strumpfmaske oder Kapuze über dem Kopf – man kennt das aus Filmen. Er würde die Injektion aufziehen, die Spritze an seinen Oberarm setzen – aus! Aber es kam anders. In dem leeren Haus hörte man plötzlich Stimmen, die Gropius in seiner Aufregung nicht verstand. Ihm war auch völlig gleichgültig, welche letzten Worte er in das ewige Nirwana, den Zustand der Freiheit von allen irdischen Leiden, mitnehmen sollte.
Hinter ihm wurde die Tür aufgestoßen. Zwei Männer traten auf ihn zu, der eine von rechts, der andere von links, doch keiner von beiden trug die erwartete Maskerade auf dem Kopf. Ihr Auftritt glich eher einer unerwarteten Theatervorstellung. Der rechte erschien klein und wohlbeleibt und trug die fein gebügelte Tracht eines Monsignore mit lila Bauchschärpe. Sein gerötetes Gesicht verriet permanenten Bluthochdruck. 190 zu 110. Er grinste hinterhältig. Der andere gab sich weniger klerikal, wenngleich sich sein weißer Priesterkragen deutlich von dem schwarzen Anzug abhob. Er war jung und kräftig und hatte lange schwarze Haare, als wäre er aus den siebziger Jahren übrig geblieben.
Für einen Moment schöpfte Gropius Hoffnung, obwohl ihn die Maskerade der beiden Männer eher verwirrte. Mit vor der Brust verschränkten Armen bauten sich die beiden vor Gropius auf und musterten ihn in seiner Hilflosigkeit. Gropius hörte, wie sein Puls in den Ohren pochte. Erwarteten die beiden, dass er sich rechtfertigte? Was wollten sie von ihm? Gropius zog es vor zu schweigen. Stolz – das Letzte, was ihm geblieben war.
Zwei, vielleicht drei endlose Minuten standen ihm die Männer regungslos gegenüber, bis der Jüngere wie auf ein geheimes Kommando plötzlich aus seinem Gesichtsfeld verschwand. Kaum war dies geschehen, wandte sich der Monsignore der Injektionsspritze auf dem Schemel zu. Mit weit aufgerissenen Augen, unfähig zu schreien oder um sein Leben zu flehen, beobachtete Gropius, wie der feiste Mann die Plastikflasche öffnete und die Spritze in die Hand nahm. Die Art und Weise, wie er mit dem Instrument umging, verriet, dass er so etwas nicht zum ersten Mal machte. Nachdem er fünf Kubik aus dem Plastikgefäß aufgezogen hatte, hielt er die Spritze senkrecht nach oben und drückte einen kleinen Strahl hervor. Dann trat er nahe an Gropius heran.
Mein Gott, dachte dieser, fünf Kubik, das reicht, um einen Elefanten zu töten. Gropius zitterte am ganzen Körper, alles in ihm vibrierte. Er schloss die Augen, wartete auf den finalen Stich, der dem Ganzen ein Ende bereitete, und überlegte noch kurz, wie lange es wohl dauern würde, bis er das Bewusstsein verlöre.
Das Warten zog sich endlos in die Länge. Er stand kurz davor, sich zu übergeben. Seine Gedärme begannen sich zu winden, als hätte er eine Riesenschlange verschluckt. Da hörte er eine Stimme. Sie klang widerlich hoch wie die eines Kastraten, und als Gropius die Augen öffnete, sah er dicht vor dem seinen das rote Gesicht des Monsignore, der in Deutsch, aber mit einem fremden Akzent, fragte: »Wo ist die Akte?«
Die Akte? Die Akte! Durch Gropius' Gehirn schossen zusammenhanglose, abgerissene Gedanken. Die Akte! Herrgott, von welcher Akte redete der schwammige Kerl? Im Augenblick war ihm nicht einmal klar, ob er, Gropius, oder Schlesinger die Hauptperson in diesem Verwirrspiel war. Doch plötzlich kam ihm eine Strategie in den Sinn, die vielleicht geeignet war, ihm das Leben zu retten.
»Die Akte?«, erwiderte er, unfähig, das Zittern seiner Stimme zu unterdrücken. »Sie erwarten doch nicht, dass ich die Akte bei mir habe.«
»Natürlich nicht!«, gab der Monsignore zurück. Die forsche Reaktion des Professors machte durchaus Eindruck. Um die Ernsthaftigkeit seiner Frage zu unterstreichen, fuchtelte der Monsignore mit der Injektionsspritze vor Gropius' Gesicht herum. »Ich will wissen, wo die Akte versteckt ist. Verraten Sie es uns, dann sind Sie ein freier Mann! Andernfalls …« Er setzte ein hämisches Grinsen auf.
Augenblicklich wurde Gropius klar, dass nur die Akte, was auch immer sich darin befinden mochte, dass diese gottverdammte Akte, die man in seinem Besitz vermutete, ihn vor dem Tod bewahren würde. Sie würden, sie konnten ihn nicht umbringen, solange sie nicht die Akte gefunden hatten. Sein Lebensmut, der ihn gerade verlassen hatte, kehrte auf einmal zurück. Er versuchte sogar ein überlegenes Lächeln aufzusetzen, als er
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