Die Akte Golgatha
Casale ein Stück flussabwärts, bog rechter Hand in den Corso Chieri ab und brachte sein Fahrzeug vor der angegebenen Adresse zum Stehen. Das Istituto war eine zweigeschossige Villa, die sich hinter einer halbhohen Mauer und viel Buschwerk versteckte. ›Istituto Prof. Luciano de Luca‹ stand auf einem korrodierten Messingschild, das ansonsten keinerlei Hinweis gab auf die Tätigkeit, die de Luca hinter den Mauern ausübte.
Als Gropius sich dem Eingang näherte, den ein hölzernes Tor verschloss, schlug innen ein Hund an. Es sollte für längere Zeit das Letzte sein, was Gregor bei klarem Verstand wahrnahm. Denn noch bevor er auf den Klingelknopf der Sprechanlage drücken konnte, wurde er von einem heftigen Schlag in den Nacken niedergestreckt. Er verlor das Gleichgewicht und das Bewusstsein. Wie aus weiter Ferne hörte er heftige Kommandos, und ihm war, als würde ihm ein Sack über den Kopf gestülpt, und man zerrte ihn in ein Auto.
Auch später wusste Gropius nicht zu sagen, wie lange er in diesem Zustand der Ohnmacht zugebracht hatte. Er glaubte nur, als er wie ein Bündel verschnürt für Sekunden auf dem Rücksitz des Autos zu sich kam, Francesca säße neben ihm. Wie er zu dieser Überzeugung gelangte, wurde ihm nie klar, denn gesehen hatte er sie nicht. Es war nur so ein Gefühl. Aus der Ferne vernahm er einen seltsamen, durchdringenden Piepton. Dann versank er erneut in tiefe Dunkelheit.
Nach einer unbestimmten Zeit kam Gropius wieder zu sich. Er fröstelte in einem quadratischen hohen Raum ohne Mobiliar, durch dessen blinde Fenster mattes Tageslicht fiel. Das einzig Bemerkenswerte an diesem Raum war der blaugrüne Ölanstrich, der an zahlreichen Stellen von den Wänden blätterte.
Der Versuch, sich auf seiner Sitzgelegenheit zu bewegen, misslang. Gropius war auf einem knorrigen Holzstuhl festgeschnallt. Derbe breite Lederriemen pressten seine Unterschenkel gegen die Stuhlbeine. Sein Brustkorb wurde von einem Gürtel an der senkrechten Lehne gehalten. Die Schultern schmerzten, weil seine Handgelenke hinter der Stuhllehne gefesselt waren. Gropius bekam kaum Luft. Er lauschte in die Stille.
Während sich seine Gehirntätigkeit langsam wieder einstellte, während er nachdachte, auf welche Weise und warum er an diesen wildfremden Ort gebracht worden sein könnte, fiel sein Blick auf einen modrigen alten Schemel, der, weil er seitlich von ihm stand, und er sich kaum rühren konnte, seiner Aufmerksamkeit bisher entgangen war. Auf dem Schemel stand eine schmale weiße Plastikflasche. Daneben lag eine Injektionsspritze mit durchgedrücktem Kolben. Bei näherem Hinsehen erkannte Gropius die rote Aufschrift auf der Plastikflasche: Chlorphenvinphos.
Nein! Er weigerte sich, das, was er sah, zur Kenntnis zu nehmen, er bäumte sich auf gegen die grauenvolle Entdeckung, und eine innere Stimme schrie gellend: Nein, nein, nein! Arno Schlesinger war mithilfe von Chlorphenvinphos getötet worden. In Sekundenschnelle bildete sich kalter Schweiß auf Gropius' festgezurrtem Körper. Gegen jede Vernunft und unter Schmerzen versuchte er sich aus den Riemen zu befreien; aber schon bald gab er auf.
Das war's also, dachte Gropius, den Blick stumpf geradeaus gerichtet, und er begann – den Tod vor Augen zeigt der Mensch die unsinnigsten Reaktionen – die Meldung zu formulieren, die in ein paar Tagen in deutschen Zeitungen unter ›Vermischtes‹ zu lesen sein würde: In der Umgebung von Turin fanden Spaziergänger die Leiche eines Mannes. Bei dem Toten handelt es sich um den zweiundvierzigjährigen Chirurgen Professor Gregor Gropius, dessen Name mit der Organmafia in Verbindung gebracht wird. Eine Obduktion der Leiche ergab, dass Gropius mit einem Insektengift getötet wurde. – Welch erbärmlicher Abgang!
Gropius bekam kaum Luft. Es roch penetrant nach Ginster. Sein Organismus, schien es, hatte mit dem Leben bereits abgeschlossen. Die Lungen verweigerten ihren Dienst. Mehr als einmal hatte er sich mit dem eigenen Tod auseinander gesetzt, sich ausgemalt, wie das sein würde, wenn er den letzten Atemzug tat. Er hatte sich eingeredet, dass er nicht merken würde, wenn es so weit war. Sterben, hatte er geglaubt, sei eine harmlose Angelegenheit, eine Art Einschlafen und Aufhören und dann permanentes Nichts. Anders als die meisten seiner Kollegen hatte er seine Berufswahl nicht aus Angst vor dem Tod getroffen, sondern aus Neugierde; aber jetzt hatte er wie alle anderen nur Angst, eine miese, beschissene Angst.
Irgendwann
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