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Die Akte Golgatha

Die Akte Golgatha

Titel: Die Akte Golgatha Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philipp Vandenberg
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unternommen hatte, um der ehrenwerten Gesellschaft zu entkommen oder diese auszutricksen. Und je länger er darüber nachdachte, desto mehr wurde ihm klar, dass er Felicia in dieser Situation nicht allein lassen konnte.
    »Warum eigentlich nicht?«, meinte er schließlich mit einem angedeuteten Lächeln, das eine gewisse Souveränität vermitteln sollte. Dabei hatte er selbst noch keine Ahnung, wie sie sich verhalten sollten, falls die geheimnisvolle Akte wirklich in dem Bankschließfach auftauchte.
    Die folgenden zweieinhalb Stunden verbrachten beide mit der Planung einer Reise, die keinen Zeugen haben durfte, und dabei entwickelte Felicia ungeahnte Fantasie und psychologische Raffinesse.
    Reisen, so argumentierte sie, werden gemeinhin morgens angetreten, also sollten sie in den Abendstunden aufbrechen und sich den Anschein geben, als besuchten sie gemeinsam eine Abendveranstaltung. In der Staatsoper stand Mozarts ›Zauberflöte‹ auf dem Spielplan. Beginn 19 Uhr.
    Am folgenden Abend passierten Felicia Schlesinger und Gregor Gropius gegen 18 Uhr 30 die Schranke der Operntiefgarage in dessen Geländewagen. Gropius parkte sein Fahrzeug neben einem grauen Volkswagen mit Hamburger Kennzeichen. Sie waren dunkel gekleidet, sodass an ihrer Absicht, die Oper zu besuchen, kein Zweifel bestehen konnte. Nur zehn Minuten später herrschte in der Tiefgarage großer Andrang. Dieses Getümmel nutzten Gropius und Felicia, um zu ihrem Fahrzeug zurückzukehren, zwei kleine Koffer aus dem Geländewagen in den grauen Volkswagen, einen Leihwagen von Avis, umzuladen und die Tiefgarage mit diesem Auto auf demselben Weg zu verlassen, den sie eine halbe Stunde zuvor gekommen waren. Eine Stunde später befanden sie sich bereits auf der Autobahn in Richtung Wien.
    Gropius liebte Wien, die Plätze und Gassen, in denen die Zeit vor hundert Jahren stehen geblieben zu sein schien, die Wienzeile, wo sich Pomp und Dekadenz die Hand reichten, die Eleganz der Kärntnerstraße und die Schäbigkeit der Außenbezirke und natürlich die Kaffeehäuser, in denen man zum Kaffee ein, zwei oder drei Glas Wasser serviert bekam und die neueste Zeitung, und wo niemand etwas dagegen hatte, wenn man, so zufrieden gestellt, einen ganzen Nachmittag dort verbrachte.
    Von einer Telefonzelle hatte Felicia im Hotel ›Interconti‹ zwei Einzelzimmer reserviert. Kurz vor Mitternacht erreichten sie das zwischen Stadtpark und einer Eisbahn gelegene Hotel und fielen todmüde ins Bett.
    Beim gemeinsamen Frühstück am nächsten Morgen ertappte sich Gropius dabei, wie er jeden Einzelnen Frühstücksgast – es waren nicht sehr viele, denn um diese Zeit, Anfang Dezember, war das Hotel nicht einmal zur Hälfte belegt –, wie er jeden Einzelnen musterte und einer eingehenden Prüfung unterzog. Doch die anderen Gäste waren in der Hauptsache mit sich selbst oder mit den ausliegenden Morgenzeitungen beschäftigt, sodass Gropius dem Tag beruhigt entgegensah.
    Gegen zehn betraten sie das pompöse Bankgebäude am Opernplatz. Bevor Felicia an einen der Schalter trat, deren seriöse Gediegenheit selbst einem wohlhabenden Kontoinhaber das Gefühl vermittelte, er komme als Bittsteller, bemerkte Gropius mit ernster Stimme: »Also noch einmal, was immer die Akte enthalten mag, wir legen sie in das Schließfach zurück. Und keine lauten Diskussionen! Die Räume werden alle mit Kameras und Mikrofonen überwacht.«
    »Ja. Wie besprochen«, erwiderte Felicia ebenso ernst.
    Während Felicia sich auswies, Schlesingers Todesurkunde und ihren Erbschein vorlegte, beobachtete Gropius die Szene scheinbar uninteressiert aus sicherer Entfernung. Die Erledigung dieser Angelegenheit nahm fünfzehn Minuten in Anspruch, dann winkte Felicia Gropius zu sich und sagte mit einer Handbewegung zu einer streng gekleideten Bankangestellten mit schwarzen Haaren und roter Brille: »Die junge Dame wird uns zu den Schließfächern begleiten.«
    Über eine Marmortreppe, die den Geruch eines Desinfektionsmittels verströmte und aussah, als führte sie zu einem Operationssaal, gelangten sie in das Untergeschoss der Bank bis vor eine Gittertür. Überwachungskameras an allen Ecken vermittelten den Eindruck, dass hier jeder Schritt, jede Bewegung beobachtet und aufgezeichnet wurde.
    Gropius war aufgeregt, und in seiner Aufgeregtheit war er nicht einmal in der Lage, Felicias Gemütsbewegungen wahrzunehmen. Er hatte sich den Kopf zermartert, welch brisanten Inhalt die Akte enthalten könnte und welche Rolle der

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