Die Akte Golgatha
wurde es allmählich lebendig. In kurzem Abstand landeten zwei einmotorige Maschinen, eine dritte wurde aus dem Hangar gezogen und betankt. Mit dem Ärmel seines Jacketts wischte Gropius den feuchten Beschlag von der Fensterscheibe. »Manchmal, in Augenblicken wie diesem«, sagte er, während er nach draußen blickte, »möchte ich in so einen Vogel einsteigen und einfach davonfliegen, weit weg, und meine Vergangenheit zurücklassen.«
Seit zwei Stunden versuchte Gropius vergeblich, Rita zu erreichen. Seine Stimmung war auf dem Nullpunkt, und er hatte nichts anderes als ihren sinnlichen Körper im Kopf. Er musste sie haben, noch heute. Endlich, nach seinem vierten oder fünften Anruf, hob Rita ab. Da war es bereits 22 Uhr.
»Ich komme«, sagte Rita wie immer, wenn er nach ihr rief, einfach: »Ich komme.«
Eine halbe Stunde später. Mit wehenden Haaren und einnehmendem Lächeln stand Rita vor der Haustür. Gropius küsste sie mit einer gewissen Unverbindlichkeit, wie er es immer tat, und ebenso routinemäßig fragte er: »Was willst du trinken?«
Rita schüttelte den Kopf, und Gropius sah sie fragend an.
»Ich möchte mit dir schlafen«, sagte Gropius ohne Umschweife. Er zeigte sich irritiert, weil Rita den Mantel anbehielt und den Kragen mit beiden Händen zusammenpresste. Auch ihr Blick, für gewöhnlich eine Herausforderung, war abweisend. Rita war einfach anders, zum ersten Mal, seit sie sich kannten.
»Ich weiß«, begann Gropius, »in letzter Zeit habe ich mich nicht sehr anständig verhalten. Aber du kennst die Gründe. Das hatte nichts mit dir zu tun.«
Noch immer im Mantel nahm Rita im Salon Platz. Mit einer abrupten Bewegung schlug sie die Beine übereinander, dann sagte sie ruhig: »Gregor, ich muss dir etwas sagen!«
Gropius setzte sich ihr gegenüber und erwiderte leise: »Ich höre.«
Rita räusperte sich. Dann sagte sie mit fester Stimme: »Ich werde heiraten.«
Ihre Worte hingen wie ein Unheil verkündendes Menetekel im Raum, jedenfalls schien es Gropius so. Er wusste nicht, wie er reagieren sollte, schließlich erlebt man so eine Situation nicht alle Tage: Die Frau, mit der man gerade ins Bett will, überrascht einen mit der Ankündigung, sie werde heiraten.
»Gratuliere!«, sagte er in dem Versuch, die Form zu wahren. »Das freut mich für dich!« Aber der Tonfall seiner Stimme verriet, wie sehr ihn die Nachricht verletzte. »Und warum erfahre ich das erst jetzt?«
»Weil ich mich erst letzte Woche entschieden habe.«
»Aha!« Gropius hob die Schultern und blickte indigniert zur Seite. Nein, das war heute nicht sein Tag. Erst der Keulenschlag, den Veronique ihm versetzt hatte, und jetzt das!
»Und wer ist der Glückliche?«, erkundigte sich Gropius floskelhaft.
»Er ist Vermessungsingenieur beim Tiefbauamt. Ich machte von ihm eine Thorax-Aufnahme, da ist es geschehen.«
»Seit wann verliebt man sich in die Innereien eines Menschen?«, knurrte Gropius ungehalten.
Rita lachte. »Es war zunächst sein Äußeres, sein herzlicher Umgangston. Erst später gab er sein Innerstes preis. Ich verstehe deine Enttäuschung, Gregor, vor allem in deiner schwierigen Situation; aber wir wissen beide, dass unser Verhältnis nichts weiter war als eine Bettgeschichte.«
»Aber eine verdammt gute Bettgeschichte. Oder hast du deine Ansicht inzwischen geändert?«
»Keineswegs. Ich kann nicht einmal ausschließen, dass ich mir irgendwann einmal eine unserer gemeinsamen Nächte zurückwünsche. Trotzdem, ich kann nicht für den Rest meines Lebens eine willige Geliebte sein, die nach Belieben zur Verfügung steht.«
Natürlich hatte Rita Recht, dachte Gropius, und im Grunde konnte er ihr diesen Schritt nicht verübeln. Aber musste es gerade jetzt sein? Zu einer Zeit, in der sein Leben ohnehin aus den Fugen geraten war, in der er jeder Frau mit Misstrauen begegnete? Während er Rita jetzt ansah, liefen vor ihm wie im Film leidenschaftliche Szenen ab, Erlebnisse, die mit Veronique sogar in den besten Zeiten unvorstellbar gewesen wären, wie damals auf dem Flug nach Hamburg, wo sie es in der letzten Sitzreihe miteinander trieben, oder in dem Hotel in Paris, wo sie einen ganzen Tag nicht aus dem Bett kamen und Mühe hatten, ihre Absicht dem marokkanischen Zimmermädchen zu erklären, oder auf der Autobahn zwischen Florenz und Verona, wo er seinen Jaguar beinahe an die Leitplanke gesetzt hätte, weil Rita es während der Fahrt wissen wollte.
»Vielleicht können wir Freunde bleiben«, holte sie ihn in die
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