Die Akte Kachelmann
bald. Er erreichte etwas, was wenige Eidgenossen erreichen: den Durchbruch im deutschen Fernsehen. «Wie schaffte er es eigentlich», wird sich die Schweizer «Weltwoche» nach der Verhaftung wundern, «als Arbeiterkind aus einfachen Verhältnissen eine derart steile Karriere hinzulegen?» Einfache Teilantwort: Ganz unten musste er nicht anfangen im Leben. Bereits der Vater war ein Aufsteiger gewesen. Vom Rangierer hatte er es zum Oberinspektor der Deutschen Bahn am Endbahnhof Schaffhausen gebracht. Er starb früh, als sein einziger Sohn ein junger Erwachsener war.
Für das Elternhaus wird sich im Mannheimer Landgericht auch Gerichtspsychiater Hartmut Pleines interessieren, der Jörg Kachelmann begutachten soll. Wenig ist bekannt darüber, nichts wird er vom schweigenden Angeklagten erfahren. Pleines kann nur ein summarisches «Gesamtbild» liefern: «eine glückliche Kindheit, ein förderndes Familienklima, kein Umfeld, das einen Menschen in seiner Entwicklung benachteiligen könnte».
«Die Kachelmanns waren keine Büezerfamilie», erzählt ein alter Bekannter, «damals konnte es sich kaum ein Arbeiter leisten, im eigenen Boot über den Bodensee zu segeln.» Die Kachelmanns verzichteten lieber auf ein Auto. Es gibt die schöne Anekdote, dass Jörg Kachelmann, das gelangweilte Einzelkind, sich – auch mangels Alternativen – auf Bootsausflügen mit seinen Eltern in das Wetter verliebt habe.
Viele in Schaffhausen haben den Schlacks von damals aus den Augen verloren, seit sie gemeinsam für Fahrradwege auf die Barrikaden gegangen waren oder gegen eine stinkende Glasfabrik. Noch zu Ohren bekommen hatten sie ihren umweltbewegten Kameraden als journalistischen Anfänger bei Radio Munot, benannt nach dem befestigtenHausberg ihres Städtchens. Die Schaffhauser Naturschützer lasen anerkennend, wie Jörg Kachelmann in den 80er-Jahren in Zürich Artikel verfasste mit Titeln wie «Unsere Tannen sterben aus!» oder «Katastrophal: Fast die Hälfte unserer Bäume todkrank». 1988 waren sie verstört wie vermutlich der Autor selbst, als dieser das Waldsterben im «SonntagsBlick» als «Fehldiagnose» entlarvte. Viele Artikel von damals hätten mit grüner Tinte gedruckt werden müssen: Mit dem Borkenkäfer hatte sich Jörg Kachelmann publizistisch so sehr angelegt, dass sie ihn auf den Redaktionsfluren des Boulevardkonzerns Ringier «Borky» nannten. Sie riefen ihn aber «Kachelfrosch». Neben Umwelt- war Kachelmann von Anfang an Wetterexperte. «Frau Holle hat Erbarmen», schrieb er, «jetzt rieselt der Schnee!» oder «Wer ist schuld, wenn das Wetter bei uns spinnt?».
Der «Kachelfrosch» erklomm beim «SonntagsBlick» und der «Schweizer Illustrierten» die Karriereleiter – bis er die hoffnungsvolle Journalistenlaufbahn, die ihn bereits in die Chefredaktion geführt hatte, abrupt beendete. Jörg Kachelmann setzte sich Anfang der 90er-Jahre in die Ostschweiz ab, wo er anfing, seine wahre Leidenschaft zum Beruf zu machen. Seine Laufbahn, wird Gerichtspsychiater Hartmut Pleines anerkennen, «ist geprägt von Zielstrebigkeit, hoher Motivation und Anstrengungsbereitschaft». Kachelmann entwickelte, als Erster im deutschen Sprachraum, das Geschäftsmodell Wetterprognose. Als populärer Wind- und Wolkenerklärer war er zuerst im schweizerischen Fernsehen mit Sprachwitz und Fachkompetenz präsent und einige Streitereien und Jahre später im deutschen. Es bildete sich das heutige schweizerisch-deutsche Wetterimperium Meteomedia heraus. Aus dem bewegten Umweltschützer wurde ein Vielflieger und Nochmehrautofahrer.
Sein Talent im Reden und Präsentieren blieb den Machern von Diskussions- und Unterhaltungssendungen nicht verborgen. Bald gab Jörg Kachelmann den Talk- und Showmaster, zuerst in der Schweiz beim «Zischtigsclub», dann auch in Deutschland, sogar, wenn auch nur kurzzeitig, bei der legendären Samstagabendshow «Einer wird gewinnen». Gekonnt spielte Jörg Kachelmann im Land seiner Eltern den helvetischen Exotenbonus. Am 1. August, demSchweizer Nationalfeiertag, zieht er sich schon mal ein Oberteil mit weißem Kreuz auf rotem Grund über. Nicht an die große Glocke hängte er, dass er erst Schweizer Staatsbürger wurde, als er um die zwanzig Jahre alt war.
Medienprofi Kachelmann weiß nur zu gut: Als vermeintlicher Exot ist er gefragt, die Aufsteigergeschichte zieht, sein Gesicht ist das Wettergesicht, Kachelmann ist eine Marke. In Deutschland als Eidgenosse. Der einstige Interviewer der Promis ist als
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