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Die Akte Nr. 113

Titel: Die Akte Nr. 113 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Gaboriau
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»Erzengel« verläßt?«
    »Sie handelt meinen Ratschlägen
gemäß.«
    »Und mir bleibt nur übrig, die Sache
aufzugeben, da ich vollständig unfähig bin,«
sagte Fanferlot, der sich tief gedemütigt fühlte.
    »Nein, mein Freund, du bist nicht
unfähig,« entgegnete Lecoq begütigend,
»du hast zwar einen Fehler begangen, aber der
läßt sich gutmachen.«
    »O, Meister,« rief Fanferlot erfreut, Lecoq
so freundlich zu finden, »ich bin überzeugt, Sie
kennen schon den Schuldigen!«
    Lecoq lächelte.
    »Nein, Eichhörnchen, ich kenne ihn so wenig
wie du, ja, ich habe nur noch nicht einmal eine feste Meinung gebildet,
während du den Kassierer für unschuldig und den
Bankier für schuldig hältst. Ich weiß nur
eins, daß man von dem Strich an der Tür des
Geldschrankes ausgehen muß, um sichere Anhaltepunkte zu
finden.«
    Bei diesen Worten hatte Lecoq am Schreibtisch unter Papieren
eine große Photographie hervorgezogen, die er Fanferlot
hinhielt. Es war eine vorzügliche Aufnahme des Geldschrankes,
alle Einzelheiten am Schlosse waren genau wiedergegeben und deutlich
trat der Strich hervor.
    »Betrachte dir den Strich noch einmal
genau,« sagte Lecoq, »du wirst bemerken, daß
er sich von oben nach unten, von links nach rechts zieht, das
heißt, daß er an der
Seite endet, wo sich die Geheimtreppe befindet. Oben beim
Schloß ist er tief, nach unten aber verliert er sich
allmählich.«
    »Ja, Meister, so ist es.«
    »Nun hast du natürlich gedacht, daß
diese Ritze durch den Dieb gemacht wurde, wir wollen uns nun
überzeugen, ob es sich tatsächlich so
verhält. Hier habe ich einen kleinen eisernen
grünlackierten Schrank; da, nimm den Schlüssel und
versuche damit ihn zu zerkratzen.«
    Fanferlot tat wie ihm befohlen und fuhr mit dem
Schlüssel kräftig auf dein Schrank herum.
    Nach zwei oder drei vergeblichen Versuchen schüttelte
er den Kopf und sagte: »Der Lack ist schwer
anzugreifen.«
    »Am Geldschrank wird er unstreitig noch dauerhafter
sein, glaubst du nicht? Was ergibt sich also daraus? Daß der
Strich, den du entdeckt hast, unmöglich von der zitternden
Hand des Diebes, dem der Schlüssel ausglitt, gemacht
worden.«
    »Das ist in der Tat sehr richtig, man muß ja
mir aller Gewalt aufdrücken, wenn man den Kasten zerkratzen
will. Aber warum ...?«
    »Ja, warum? Drei Tage habe ich darüber
nachgedacht, aber ich glaube, jetzt hab' ich's, komm, wir wollen uns
auch davon überzeugen.«
    Bei diesen Worten schritt Lecoq an die Tür, die in
ein Nebenzimmer führte, zog den Schlüssel heraus und
behielt ihn in der Hand.
    »Jetzt stelle dich neben mich,« sagte er zu
Fanferlot, »so, nun nehmen wir an, daß ich diese
Tür gegen deinen Willen aufsperren will, und du mich zu
verhindern trachtest. Wenn du siehst, daß ich mit dem
Schlüssel mich dem Schlüsselloch nähere, was
für eine Bewegung wirst du da machen?«
    »Ich werde mit beiden Händen Ihren Arm
drücken und ihn an mich heranziehen, daß Sie den
Schlüssel nicht ins Schlüsselloch bringen
können.«
    »Sehr richtig, nun wollen wir's versuchen.«
    Sie machten das Experiment und der Schlüssel, den
Lecoq in der Hand hielt, glitt ab und brachte einen vollkommen
deutlichen Strich hervor, der genau wie jener an der Kasse
schräg von oben nach unten lief.
    »O, o!« rief Fanferlot staunend.
    »Begreifst du nun ...?«
    »Wie sollt' ich nicht, jetzt, da Sie es
herausgebracht haben, ist es kinderleicht und ich sehe die Szene vor
mir, als ob ich dabei gewesen wäre: Es standen zwei Personen
vor der Kasse, die eine wollte den Diebstahl verüben, die
andere suchte sie daran zu verhindern! Das ist klar.«
    »Es ist wenigstens wahrscheinlich, mein lieber
Fanferlot, aber – welche Schlüsse ziehst du nun aus
unserer Annahme?«
    »Vor allem, daß ich mich nicht
getäuscht und der Kassierer unschuldig ist, denn er konnte die
Kasse öffnen und schließen, wann er wollte, er
würde in Gegenwart von Zeugen sich gewiß nicht zum
Stehlen angeschickt haben.«
    »Sehr richtig, aber da dasselbe auch vom Bankier
gilt, so ist auch seine Unschuld erwiesen.«
»O,« sagte Fanferlot niedergeschlagen, »das
ist allerdings wahr, aber dann sehe ich keine Möglichkeit
...«
    »Doch, wir müssen den Dritten, den
wirklichen Räuber suchen, der sich jetzt ruhig seines Raubes
freut, während der Verdacht auf zwei Unschuldigen
ruht.«
    »Ein Dritter! Unmöglich! Da Sie alles
wissen, dürfte Ihnen auch der Umstand bekannt

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