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Die Akte Nr. 113

Titel: Die Akte Nr. 113 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Gaboriau
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Sache immer mehr verwickelt,
wäre es vielleicht doch gut, Herrn Lecoq zu Rate zu
ziehen.«
    »Schön, ich will es tun, um mein Gewissen zu
beruhigen, aber, wenn ich den Faden nicht finden kann, wie sollte er
es!«
    Am nächsten Morgen war er schon um sechs Uhr zum
Ausgehen bereit, denn man muß früh kommen, wenn man
Herrn Lecoq antreffen will.
    Nicht ohne Herzklopfen begab er sich zum
»Meister,« wie die übrigen Polizisten Herrn
Lecoq nannten, und er erschrak sogar ein wenig, als die Magd ihm beim
Öffnen der Tür sagte: »O gut, daß
Sie kommen, der Herr erwartet Sie.«
    Bei dieser Ankündigung wäre er am liebsten
umgekehrt, aber die Magd hatte schon die Tür zu Lecoqs
Arbeitszimmer geöffnet und den Ankömmling gemeldet.
    In Lecoqs Arbeitszimmer, das mit den hohen
Bücherregalen eher der Studierstube eines Gelehrten, denn dem
Bureau eines Polizisten glich, saß der
»Meister« vor einem mächtigen
Eichenschreibtisch und arbeitete.
    Beim Eintritt Fanferlots, der sich ehrerbietig bis zur Erde
verneigte, hob er den Kopf und sagte: »Kommst du endlich, mein
Lieber? Du hast endlich eingesehen, daß es mit dem Fall
Bertomy doch allein nicht recht vorwärts gehen will?«
    »Wie, Sie wissen?« stammelte der Polizist.
    »Ich weiß, daß du die Sache so
verwirrt hast, daß du dich nun selber nicht mehr zurecht
findest.«
    »Meister, es ist nicht meine Schuld ...«
    Lecoq erhob sich, trat vor Fanferlot, sah ihn mit seinen trotz
der Brille scharfen Augen durchbohrend an und sagte: »Was
würdest du von einem Manne denken, der das Vertrauen seiner
Vorgesetzten mißbraucht, von dem, was er entdeckt, nur gerade
soviel enthüllt, als nötig ist, um die Anklage auf
falsche Fährte zu führen und aus einfältiger
Eitelkeit das Gericht betrügt und der Sache des armen
Angeklagten schadet?«
    Fanferlot war erschrocken zurückgewichen.
    »Ich ... ich ...« stotterte er.
    »Du bist wohl auch der Meinung, daß ein
solcher Mensch bestraft und fortgejagt zu werden verdient, nicht? Du
hast nur das Beste des Angeklagten im Auge gehabt? Nun, mein Lieber,
wenn der Spürhund ohne Jäger auf die Jagd gehen will,
muß er eben schlauer sein, als du es bist.«
    »Aber Meister, wie soll man es angreifen bei einem
Fall, wo gar keine Handhabe gegeben ist?«
    »Du bist doch ein rechter Stümper, du hast
selber das Mittel entdeckt und in Händen gehabt, um
herauszubringen, wessen Schlüssel die Kasse aufgesperrt hat,
der des Bankiers oder der des Kassierers.«
    »Das wäre ...!« rief Fanferlot
erstaunt. »Erinnerst du dich nicht des Striches, den du am
Geldschrank entdecktest? Er ist dir so aufgefallen, daß du
einen Ausruf nicht unterdrücken konntest, du hast ihn
sorgfältig mit dein Vergrößerungsglas
untersucht, aber es ist dir nicht eingefallen, auch die beiden
Schlüssel genau in Augenschein zu nehmen, einer von ihnen
mußte, da der Strich, wie du richtig festgestellt hast, ganz
frisch war, wenigstens einige Atome von der grünen Lackfarbe,
mit der der Schrank angestrichen ist, aufweisen.«
    Fanferlot hatte mit offenem Munde zugehört, bei den
letzten Worten schlug er sich vor die Stirn und rief: »O, ich
Dummkopf.« Und bittend fügte er hinzu:
»Meister, wenn Sie sich des Falls annehmen wollten
...«
    Lecoq, der seine eigenen Pläne nie verriet,
entgegnete nur: »Wir wollen sehen ... Aber jetzt setze dich
und erzähle mir alles genau.«
    Fanferlot berichtete alles wahrheitsgetreu, nur den
Schluß, wie ihm der dicke Herr so übel mitgespielt
hatte, ließ er ans Eitelkeit weg.
    »Es will mir scheinen, mein liebes
Eichhörnchen, als ob du etwas vergessen hättest ...
Sage mir doch, wie weit du dem leeren Wagen nachgelaufen bist?«
    Fanferlot errötete wie ein ertapptes Schulkind und
schlug die Augen nieder.
    Ist denn dieser verteufelte Lecoq allwissend? dachte er. Da
durchzuckte ihn plötzlich ein Gedanke, er sprang vom Sessel
auf und rief triumphierend: »Jetzt hab' ich's, Meister, der
dicke Herr waren Sie! Und ich habe Sie doch so genau angesehen, aber
nicht erkannt! – Auch ich war verkleidet ...«
    »Und das ziemlich schlecht, mein lieber Freund, um
sich unkenntlich zu machen, genügt ein falscher Bart und eine
Bluse nicht. Alles muß verändert werden, der ganze Gesichtsausdruck,
sogar der Blick ...«
    Fanferlot staunte noch immer über Lecoqs Kunst.
Endlich sammelte er sich und fragte: »Da Sie alles wissen, so
wird es Ihnen wohl auch bekannt sein, warum Nina den

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