Die Akte Nr. 113
weiter bestand, abgestreift, und stand
in seiner wahren Gestalt, die fast noch niemand gesehen hatte, da. Er
war ein schöner junger Mann mit dunklem Kraushaar, feurigen
Augen und einem beweglichen Schauspielergesicht.
Er setzte sich an seinen Toilettetisch, auf dem zahllose
Büchschen und Dosen mit allerlei Salben und Essenzen standen
und eine Menge Perücken und Bärte in allen Farben
lagen, und nicht lange dauerte es, da war der wirkliche Lecoq
verschwunden und der freundliche dicke Herr mit dem rötlichen
Gesichte und dem graublonden Backenbart schaute aus dem Spiegel heraus.
Wenn nur Fanferlot keine Zeit verliert, dann kann ich gleich
ans Werk gehen, dachte er, als er seine Wohnung verließ.
Nein, Fanferlot verlor keine Zeit, er lief nicht, er flog fast
aufs Gericht, er war glücklich, mit seinem Scharfsinn
glänzen zu können, daß es nicht sein eigener
war und er sich mit fremden Federn schmückte, vergaß
er – wahrscheinlich in der Eile – ganz und gar.
Der Untersuchungsrichter bewunderte in der Tat die
Genialität des Verfahrens und wenn er auch nicht
vollständig überzeugt war, so mußte er doch
zugeben, daß es den Kassierer wesentlich entlastete.
»Ich will in der Strafkammer günstig
aussagen,« erklärte er, »und man wird ihn
wahrscheinlich sofort freilassen.«
Und nachdem Fanferlot sich entfernt hatte, sagte er zu seinem
Schreiber: »Das ist nun wieder eines jener Verbrechen, das
unaufgeklärt bleibt, und nur unser Archiv um ein Aktenfaszikel
vermehrt.«
Und mit eigener Hand schrieb er auf den Umschlag die Ziffer,
die an der Reihe war: 113 .
6. Kapitel
Neun Tage hatte sich Prosper Bertomy in Untersuchungshaft
befunden, als ihm der Gefängniswärter endlich seinen
Freilassungsbefehl überbrachte.
Das Verfahren gegen ihn, hieß es dann, ist wegen
Mangel an Beweisen eingestellt worden und er konnte gehen wohin es ihm
beliebte. Zuerst händigte man ihm in der Kanzlei alle ihm
gehörigen Gegenstände, die man ihm abgenommen hatte,
wieder ein, dann öffneten sich die Tore und er war frei.
Wohl war er frei, aber die Ehre hatte ihm das Gericht nicht
wiedergegeben, der Verdacht ruhte noch auf ihm, wie ein Schandmal.
Das Schreckliche seiner Lage kam ihm erst voll zum
Bewußtsein, als er draußen stand, von milden
Frühlingslüften umweht, mitten im Getriebe der Stadt,
in der er nun wie ein Ausgestoßener herumirren sollte!
Würde er auch nur eine Tür offen finden, eine einzige
entgegengestreckte Freundeshand? Nein, alle würden sich von
ihm abwenden, denn seine Ehre war bemakelt!
Er stand am Kai, zu seinen Füßen
floß die Seine, der Gedanke an den Tod lockte ihn.
»Ach,« sagte er seufzend, »ich habe
nicht einmal das Recht zu sterben, ich muß leben, um meine
Ehre wieder zu erlangen!«
Aber was nun beginnen? So lange er noch im Gefängnis
schmachtete, war sein einziger Gedanke der gewesen: O, wenn ich nur
frei wäre, dann würde ich den Schändlichen
entlarven, vernichten! – Nun war er frei, aber was konnte,
sollte er beginnen? Er war ratlos!
Langsam schlug er den Weg zu seiner Wohnung ein. Neue Sorgen
bestürmten ihn: was mochte in diesen neun Tagen, in denen er
aus der Zahl der Lebenden ausgestrichen war, vorgefallen sein? Und was
sollte er nun beginnen, einsam und freundlos wie er war –
denn wie konnte er auf einen Freund zählen, da sein eigener
Vater ihm nicht geglaubt – wer würde ihm glauben?
Nina! Unwillkürlich kam ihm der Name in den Sinn, und
der Gedanke an sie hatte etwas ungemein Beruhigendes für ihn.
Zwar hatte er das arme Mädchen nie geliebt, ja, es hatte sogar
Augenblicke gegeben, wo er sich widerwillig von ihr abwandte, aber in
diesem Augenblick empfand er es als Wohltat, daß er nicht
einsam und freundlos sein würde. Ein Weib ist im
Unglück immer treu, selbst wenn sie es auch im Glück
nicht immer ist. Nina würde an ihn glauben, ihm ein Trost sein!
Vor seinem Hause angelangt, zögerte er einzutreten.
Er hatte die natürliche Scheu eines fälschlich
Beschuldigten und fürchtete einem bekannten Gesicht zu
begegnen. Da kam eben der Hausmeister heraus und als er Bertomy
erblickte, rief er: »Ah, ich freue mich, daß Sie
wieder herausgekommen sind! Na, ich habe es ja gleich gesagt, als ich
in der Zeitung las, daß Sie gestohlen haben sollen, nein,
sagt' ich, das glaub' ich nicht, unser Mieter vom dritten Stock ist ein
Ehrenmann, ein Kavalier ...«
Bertomy fühlte sich von dem Wortschwall peinlich
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