Die Akte Nr. 113
habe von jeher einen unerklärlichen
Widerwillen gegen ihn gehabt. Wissen Sie etwas Näheres,
über ihn?«
»Vorläufig noch nicht viel, aber –
nichts Günstiges. Louis von Clameran stammt aus Tarascon, er
hatte einen älteren Bruder, namens Gaston, der vor etwa
vierundzwanzig Jahren das Unglück hatte, bei einer
Schlägerei einen Mann zu töten und deshalb ins
Ausland fliehen mußte. Er war ein braver, rechtschaffener
Mensch gewesen, während sein Bruder Louis immer das Gegenteil
war, von Jugend auf schlechte Neigungen hegte und sich überall
verhaßt machte. Nach dem Tode seines Vaters kam er nach Paris,
verpraßte in kürzester Zeit nicht nur sein eigenes
väterliches Erbe, sondern auch noch das seines
flüchtigen Bruders und machte ansehnliche Schulden. Hierauf
wurde er Soldat, mußte aber wegen schlechter
Aufführung den Dienst verlassen. Er begab sich nach England,
wo er ein Abenteurerleben führte und in eine schmutzige
Spielergeschichte verwickelt war. Plötzlich erschien er wieder
in Paris, wo er sich in der schlechtesten Gesellschaft herumtrieb und
ganz herabkam. Da erfuhr er eines Tages, daß sein Bruder
Gaston nach Frankreich zurückgekehrt sei und ein
großes Vermögen mitgebracht habe. Es verhielt sich in
der Tat so, Gaston kam aus Mexiko als reicher Mann wieder und da er von
drüben her an Tätigkeit gewöhnt war, wollte
er auch hier nicht müßig bleiben und kaufte bei
Oleron ein Eisenwerk. Offenbar aber ist ihm der Klimawechsel nicht
bekommen, denn trotzdem er noch
verhältnismäßig jung war, ist er vor einem
halben Jahre gestorben. Sein Bruder Louis weilte an seinem Totenbette
und erbte nicht nur ein großes Vermögen, sondern auch
den Marquistitel.«
Prosper hatte mit größter Aufmerksamkeit
zugehört, als Verduret eine Pause machte, sagte er:
»Aus Ihren Mitteilungen geht klar hervor, daß der
Marquis von Clameran – den unseren meine ich
natürlich – als ich ihn bei Fauvel kennen lernte,
noch tief im Elend steckte und ihm der Marquistitel noch nicht
zukam.«
»So ist es.«
»Kurz darauf erschien Raoul auf der
Bildfläche.«
»Allerdings.«
»Und ungefähr einen Monat später
hat mich Magda plötzlich aufgegeben.«
»Potzblitz, mein lieber Prosper, Sie werden ja auf
einmal scharfsinnig und ...«
Er unterbrach sich, denn ein neuer Ankömmling war in
die Gaststube getreten. Es war ein Bedienter in vornehmer
herrschaftlicher Livree, der raschen Schrittes auf Verduret zutrat.
»Nun, Josef Dubois, wie steht's?« fragte
dieser.
»O Meister, jetzt geht es los, es wird
höllisch heiß.«
Prosper betrachtete erstaunt den Herrschaftsdiener und
zerbrach sich vergeblich den Kopf, wo er dieses Gesicht mit den
lebhaften Äuglein schon gesehen habe?
Inzwischen setzte sich Dubois an einen Nebentisch,
ließ sich Absinth geben, in den er regelrecht Wasser
goß und sagte: »Ich muß Ihnen aufrichtig
gestehen, Meister, daß man bei dem Herrn Marquis als
Kammerdiener und Kutscher nicht gerade auf Rosen gebettet ist
–«
»Zur Sache, zur Sache.«
»Ich bin schon dabei. Also, gestern nachmittag ging
der Herr zu Fuß aus, ich ihm natürlich nach. Wissen
Sie, wohin er ging? Es war zum Lachen, zum
›Erzengel‹ wo er nach einer gewissen kleinen Dame
fragte. Als er erfuhr, daß sie nicht mehr dort sei, war er
wütend, und rannte ins Hotel zurück, wo ihn Herr von
Lagors erwartete. Nun begann er zu fluchen – ich habe
derartiges mein Lebtag nicht gehört, und als ihm der andere
fragte, was ihn denn so sehr aufbrächte, antwortete er: gar
nichts, nur, daß die Spitzbübin uns durchgebrannt ist
und niemand weiß, wo sie steckt. Die Mitteilung schien Herrn
Raoul auch zu beunruhigen und er fragte: Weiß sie denn etwas
Bestimmtes? Nein, entgegnete der Marquis, nicht mehr als ich dir schon
sagte, aber das genügt, um einen Menschen, der etwas
Spürsinn besitzt, auf die richtige Fährte zu
bringen.«
Verduret lächelte. »Dein Herr ist ja recht
scharfsinnig,« sagte er, »aber fahre fort.«
»Lagors wurde ganz grün im Gesicht und rief:
Da muß ja die Dirne unschädlich gemacht werden, ehe
sie plaudern kann. Aber mein Marquis zuckte die Achseln und sagte, dazu
müßte man sie haben. Darüber haben sie
gelacht und dann beraten, wie sie ihrer wieder habhaft werden
könnten.«
Prosper lauschte den Worten des fremden Bedienten mit
atemloser Spannung. Jetzt glaubte er das Bruchstück von Nina
Gypsys Brief sich erklären zu können, soviel
Weitere Kostenlose Bücher