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Die Akte Nr. 113

Titel: Die Akte Nr. 113 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Gaboriau
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noch einmal vor ihm vorbei. Er dachte und grübelte,
daß ihm davon der Kopf schmerzte. Er erhob sich, um das
Fenster zu öffnen – denn er hatte das
Bedürfnis nach frischer Luft – aber ein heftiger
Wind, der ihm entgegenschlug, zwang ihn, das Fenster gleich wieder zu
schließen. Durch den entstandenen Zugwind waren die
Vorhänge aufgeflogen und ein Papierschnitzel wirbelte
plötzlich mitten im Zimmer herum.
    Prosper hob es auf und betrachtete es zerstreut, aber wie
staunte er, als er Ninas Handschrift erkannte – es war das
Bruchstück eines Briefes. Die unzusammenhängenden
Sätze ergaben keinen Sinn und doch gaben sie Prosper unendlich
viel zu denken. Immer wieder und wieder las er:
    »... von Herrn Raoul, ich war
sehr im ... gegen ihn geschmiedet ... Prosper benachrichtigen und dann
... beste Freund, er ... Fräulein Magdas Hand ...«
    Prosper konnte die ganze Nacht keine Ruhe finden.

8. Kapitel
    Für den nächsten Nachmittag hatte Herr
Verduret Prosper in eine abgelegene Weinkneipe bestellt, die zu dieser
Stunde wenig besucht war. Zur festgesetzten Zeit erschien der dicke
Herr und freute sich, Prosper schon anzutreffen, er sah
überhaupt recht vergnügt aus.
    »Haben Sie meine Bestellung
ausgeführt?« fragte er, nachdem er an Prospers Tisch
Platz genommen und der Kellner Wein gebracht hatte.
    »Ja, ich war beim Kostümhändler,
alles wird morgen im ›Erzengel‹ abgeliefert
werden.«
    »Schön, und auch ich habe meine Zeit nicht
verloren, ich erwarte einige Boten, die wichtige Nachrichten bringen
werden, unterdessen wollen wir uns zum Zeitvertreib ein wenig mit Ihrem
hübschen Freunde Raoul beschäftigen.«
    Verduret zog sein Notizbuch hervor und blätterte
darin, Prosper sah ihn gespannt an, denn das Bruchstück von
Ninas Brief hatte seinen Argwohn rege gemacht.
    »Können Sie mir vielleicht sagen, aus
welcher Gegend Herr von Lagors stammt?«
    »Gewiß, er ist aus demselben Orte, wie seine
Tante Frau Fauvel, aus Saint-Remy.«
    »Ei, ei,« sagte Herr Verduret, indem er in
sein Buch blickte, »das ist höchst
merkwürdig.« Und indem er den Ton eines
Fremdenführers nachahmte, begann er: »Saint-Remy ist
ein hübsches, freundliches Städtchen mit sechstausend
Einwohnern, es besitzt reizende Parkanlagen, interessante
Festungsüberreste, ein schönes
altertümliches Rathaus, berühmte Seidenwebereien, ein
Irrenhaus.«
    »Aber, ich bitte Sie,« unterbrach Prosper.
    Unerschütterlich fuhr Verduret fort:
»Saint-Remy besitzt ferner einen sehenswerten
römischen Triumphbogen, ein griechisches Mausoleum; es ist die
Heimat des Nostradamus, aber – nicht die Ihres Freundes
Lagors ...«
    »Nicht möglich, er sagte mir doch
...«
    »Ich habe Beweise; ich habe mich mit der dortigen
Obrigkeit ins Einvernehmen gesetzt und folgende Daten erhalten: Die
Lagors, heißt es in jener Zuschrift, sind eine uralte Familie,
die sich vor etwa einem Jahrhundert in Saint-Remy angesiedelt
haben.«
    »Nun sehen Sie ...« fiel Prosper ein.
    »Wie wär's, wenn Sie mich zu Ende lesen
ließen? – Der letzte Lagors – er
hieß René-Henri – verehelichte sich mit der
Jungfrau Klarisse Fontanet und starb im Jahre 1848, ohne
männliche Erben. Im Register des Standesamtes kommt der Name
Lagors nicht mehr vor. – Nun, lieber Prosper, was sagen Sie
dazu?«
    Prosper war verblüfft.
    »Wie kommt aber Fauvel dazu, Raoul als Neffen zu
behandeln?«
    »Sie wollen sagen, als Neffen seiner Frau, darauf
wollen wir später eine Antwort finden; hören Sie
jetzt, was ich weiter erfahren habe und Sie werden daraus ersehen, wie
es um die Rente von zwanzigtausend Frank, über die Raoul
angeblich verfügt, in Wahrheit steht: Der letzte Lagors ist
völlig verarmt gestorben, nachdem er sein Vermögen in
verunglückten Unternehmungen verloren; seine zwei
Töchter haben sich verheiratet und sind nach anderen Orten
ausgewandert, die Witwe lebt von den Unterstützungen, die ihr
eine reiche Verwandte, die Frau eines Bankiers in Paris, zukommen
läßt ...«
    »Aber,« fragte Prosper in immer wachsendem
Staunen, »wenn Raoul kein Lagors und nicht der Neffe der Frau
Fauvel ist, wer ist er dann?«
    »Das weiß ich nicht, mein lieber Prosper,
und ich will Ihnen gestehen, daß es leichter war
herauszubringen, wer er nicht ist, als wer er ist. Der einzige Mensch, der uns darüber
Auskunft geben kann, wird sich wohl hüten, es zu tun.«
    »Sie meinen den Marquis von Clameran?«
    »Natürlich.«
    »Ich

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