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Die Akte Nr. 113

Titel: Die Akte Nr. 113 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Gaboriau
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liegt, rückhaltlos
sagen kannst, sprich, Valentine, mein teueres Herz, sag' mir, was dich
bedrückt.«
    Jetzt war der Augenblick gekommen, jetzt wollte sie ihm alles
gestehen. Schon öffnete sie den Mund, da war's ihr, als
sähe sie an der Tür das drohende, wutverzerrte
Gesicht ihrer Mutter; sie dachte an den Schmerz Andrés, an das
Aufsehen, das die zurückgegangene Verlobung machen
würde, an das fernere Leben mit ihrer Mutter und sie
schauderte. Sie brach in erneuerte Tränen aus und auf Fauvels
nochmalige besorgte Fragen antwortete sie nur: »Mir ist so
bange.«
    Er lächelte über dies Geständnis
jungfräulicher Schamhaftigkeit, legte sanft seinen Arm um sie
und sprach ihr in liebevollen Worten Trost zu, aber diese schienen nur
ihren Schmerz zu vermehren. Verwundert drang er mit neuen Fragen in
sie, ehe sie aber antworten konnte, erschien die Gräfin, um
die lieben Kinder, wie sie sagte, zur Gesellschaft
zurückzuholen. – Das Geständnis blieb
unausgesprochen.
    Am nächsten Tag fand in der Dorfkirche von Laverberie
die Trauung statt. Die Braut sah in ihrem weißen Kleide
entzückend schön aus und der Bräutigam
strahlte vor Glück. Sie aber ging an seiner Seite
schmerzverloren, ihr war, als müßten alle mit Fingern
auf sie zeigen, und der Myrtenkranz, den zu tragen sie sich
unwürdig fühlte, drückte ihre Stirn wie eine
Dornenkrone.
    Ein Jahr war verflossen. André betete seine Frau an
und fühlte sich in ihrem Besitze unendlich glücklich.
Um sie mit allem Luxus, allen Genüssen des Reichtums umgeben
zu können, stürzte er sich in Geschäfte und
Unternehmungen, die ihm glückten, sein Vermögen, sein
Ansehen wuchs von Tag zu Tag und alle Welt pries Valentine
glücklich.
    Sie war es auch in ihrer Weise und es wäre vollkommen
gewesen, wenn sie hätte vergessen können. Aber die
Vergangenheit stand immer wie ein Schreckgespenst vor ihrer
geängstigten Seele.
    Anderthalb Jahre nach ihrer Hochzeit schenkte sie ihrem Gatten
einen Sohn und das folgende Jahr einen zweiten. Fauvel war selig und
zog seine Kinder wie Prinzen auf; wie leidenschaftlich aber Valentine
sie auch liebte, sie konnte niemals das arme verlassene
Würmchen vergessen, das sie Fremden überlassen
mußte und das jetzt vielleicht Not litt! Wenn sie nur
gewußt hätte, wo es war, aber ihre Mutter zu fragen,
wagte sie nicht! Auch das Vermächtnis Gastons, der Schmuck
seiner Mutter, beunruhigte sie, sie verbarg ihn und zitterte doch
immer, ihr Mann könnte ihn eines Tages entdecken. So sorgte
und quälte sie sich fort und fort und konnte ihres Lebens
nicht froh werden.

14. Kapitel
    Louis von Clameran war eine verschlossene Natur, die unter
einer kalten, gleichgültigen Außenseite die wildesten
Leidenschaften verbarg. In frühester Jugend schon
gärten in seinem Inneren wilde, schlechte Gedanken, er
dürstete nach Freiheit, Reichtum, maßlosem
Genuß.
    Er liebte seinen Vater nicht, den Bruder aber haßte
er sinnlos und der alte Marquis nährte, ohne es zu wissen und
zu wollen, Louis' Neid und Eifersucht. Unverhohlen zeigte der Vater
seine Vorliebe für den ältesten Sohn, der ja auch der
künftige Majoratsherr und Erbe war.
    Trotzdem der offenherzige und ehrliche Gaston alles tat, um
die Liebe seines Bruders zu gewinnen, blieb sein Haß
unvermindert, obgleich er schlau seine wahren Gefühle,
namentlich vor dem Vater, zu verbergen trachtete.
    Aber die Diener haben allezeit scharfe Augen für die
Fehler ihrer Herren, und so war der Haß des Jüngeren
gegen seinen älteren Bruder für sie kein Geheimnis.
Als durch den Sturz von Louis' Pferd Gaston seinen Feinden ausgeliefert
worden, glaubten sie nicht an einen verhängnisvollen Zufall,
sondern sahen eine böswillige Absicht darin. Besonders
empört war der Reitknecht, der ein Bravourstück der
Reitkunst ausgeführt hatte und fast geflogen war, um seine
Verfolger irre zu führen. Und der alte Kammerdiener, dessen
Abgott Gaston war, sprach geradezu von Brudermord. Anton scheute sich
nicht, dem jungen Grafen zu sagen: »Es ist doch
eigentümlich, daß ein so geschickter Reiter wie Sie
gerade dann das Unglück hat zu stürzen, wenn von
seiner Geschicklichkeit das Leben seines Bruders
abhängt.«
    Louis war über die Kühnheit dieser
Äußerung so empört und –
betroffen, daß er den alten Diener mit der Reitpeitsche
gezüchtigt hätte, wenn nicht in dem Augenblick die
Nachricht gekommen wäre, daß Gaston sich in die Rhone

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