Die Akte Nr. 113
Dorfe bei London nieder. Sie nannte sich dort Frau Wilson und
hielt ihre Tochter wie eine Gefangene, aber sie selbst fuhr oft nach
London und besuchte Gesellschaften, Theater und Konzerte.
Die arme Valentine führte den ganzen Winter
über ein trauriges Leben, und als sie endlich im
Frühlinge einem Knaben das Leben schenkte, wurde er ihr wenige
Stunden nach seiner Geburt schon entrissen.
Ihre grausame, kaltherzige Mutter hatte alles voraus
ausgedacht und vorbereitet. Das Kind wurde von dem Dorfgeistlichen auf
den Namen Raoul Wilson getauft und kam dann zu einer jungen
Bäuerin in Pflege. Diese Frau hatte sich verpflichtet, den
Knaben als eigen anzunehmen, ihn zu erziehen und ihn ein Handwerk
lernen zu lassen, dafür gab ihr die Gräfin als
Abfertigung zehntausend Frank.
Da die Bäuerin von dem wahren Namen und Stand der
Gräfin keine Ahnung hatte, so konnte das Kind niemals die
Wahrheit über seine Herkunft erfahren und das war es, was der
Gräfin am meisten am Herzen lag.
Als die Angelegenheit erledigt war, fühlte sie sich
wie von einem Alp befreit und kam ganz vergnügt nach Hause.
Aber Valentine weinte und verlangte nach ihrem Kinde.
»Du bist wohl verrückt,« versetzte
die Gräfin. »Das Kind ist gut aufgehoben, das
muß dir genügen. Die Vergangenheit war ein
böser Traum, den du vergessen mußt , und
damit basta.«
Wohl empörte sich Valentines Innerstes gegen die
Gewalttätigkeit ihrer Mutter, aber sie hatte nicht den Mut,
sich zu widersetzen und duldete klaglos.
Im Sommer kehrten sie nach Laverberie zurück. Die
Welt hatte wirklich keine Ahnung gehabt, welches der wahre Grund der
Reise gewesen und so konnte die Gräfin ihre alten Beziehungen
wieder aufnehmen. Sie wußte viel von England zu
erzählen und ging täglich in Gesellschaft.
Dr. Raget war der einzige, der die Wahrheit wußte.
Die Gräfin hatte sich beglaubigte Dokumente verschafft und
wies sie dem alten Arzte bei seinem ersten Besuche sofort vor.
»Sie sehen,« sagte sie, »das Kind
lebt und ist in guten Händen, ich habe es mich genug kosten
lassen, ich denke, Sie können zufrieden sein.«
»Wenn Ihnen Ihr Gewissen nichts vorwirft, Frau
Gräfin – ich muß es sein.«
Nein, ihr Gewissen machte ihr keine Vorwürfe, dazu
war sie zu herzlos. Sie quälte die arme Valentine
unablässig mit den bittersten Vorwürfen und konnte
ihr nicht verzeihen, daß sie, statt die Mutter durch eine
glänzende Heirat zu bereichern, sie durch ihren Fehltritt noch
um Geld gebracht hatte.
Das Leben des unglücklichen Mädchens war
eine einzige Kette von Leiden, sie duldete still, aber manchmal bereute
sie doch, nicht mit Gaston geflohen zu sein. War ihre Aufopferung denn
nicht ganz überflüssig gewesen? Unablässig
dachte sie an den Geliebten, wo er nur weilen mochte? Lebte er noch,
dachte er ihrer? Warum hatte er noch kein einziges Mal versucht, ihr
Nachricht zukommen zu lassen?
In drei Jahren wollte er wiederkommen. Aber war seine
Rückkehr möglich? Man hatte zwar angenommen,
daß er ertrunken sei, da man aber keine Beweise für
seinen Tod hatte, wurde die Angelegenheit doch vor dem Schwurgericht
verhandelt und Gaston von Clameran wegen Totschlags » in contumacia «
zu mehreren Jahren Gefängnis verurteilt.
Valentine hatte sofort nach ihrer Rückkehr Milhonne
ausgeschickt, um Erkundigungen über Louis einzuziehen, aber
der junge Marquis war noch nicht auf sein väterliches
Schloß zurückgekehrt und es hieß,
daß er in Paris ein lustiges Leben führe.
***
Die Zeit verging. Vier Jahre waren seit Gastons Flucht
verflossen, aber er hatte noch immer kein Lebenszeichen gegeben.
Die Gräfin, welche auf die Aussicht, einen reichen
Schwiegersohn zu bekommen, verzichten mußte, wollte, wie sie
sagte, sich nicht länger Entbehrungen auferlegen, und begann,
über ihre Verhältnisse zu leben, sie machte ein
großes Haus, bestellte für sich glänzende
Toiletten aus Paris, ging in Gesellschaft und auf Reisen, kurz, sie
brachte es dahin, daß ihre Besitzung binnen kurzem
überschuldet war und sie sich in Wuchererhänden
befand. Natürlich verbesserte dies ihre üble Laune
keineswegs und die arme Valentine hatte übermenschliches zu
leiden.
Da geschah es, daß ein junger Ingenieur, der die
Arbeiten der Rhoneregulierung zu leiten hatte, in die Gegend kam und da
er liebenswürdig und sympathisch war, so wurde er bald auf
allen Schlössern der Umgebung ein gern gesehener Gast. Bei
solchen
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