Die Akte Nr. 113
der im Dorfe wohnte, in Verwahrung hatte,
holen.
Als er in das Häuschen trat, kam ihm ein Bauer mit
freundlichem Gesichte entgegen und fragte erstaunt nach des Fremden
Begehr.
»Ich suche den ehemaligen Kammerdiener des Marquis
von Clameran.«
»Mein Vater ist leider vor fünf Jahren
gestorben,« versetzte der Mann betrübt.
»Gestorben? Das tut mir leid. Ich kam, um die
Schlüssel zum Schlosse zu holen – ich bin der
Marquis von Clameran.«
»Der Herr Marquis,« rief der Bauer erfreut
und streckte ihm die Hand entgegen, »o, seien Sie in der
Heimat tausendmal willkommen!«
Dieser herzliche Empfang tat Louis wohl; er, der
Geächtete, der seit vielen, vielen Jahren keinen Ausdruck
uneigennütziger Ergebenheit, aufrichtiger Zuneigung mehr
gehört hatte, faßte wirklich erfreut die Hand, die
sich ihm entgegenstreckte, und drückte sie mit Wärme.
»Ach, daß mein armer Vater diese Freude
nicht mehr erlebt hat,« fuhr der Mann fort, »aber
ich, Herr Marquis, und die Meinen sind Ihnen so ergeben, wie er selbst.
Der Vater hat bis zu seinem letzten Atemzuge immer von der Familie
Clameran gesprochen und täglich die Rückkehr seines
jungen Herrn erwartet. Aber nun erlauben Sie, Herr Marquis,
daß ich Ihnen meine Frau, meine Kinder zeige.«
Auf sein Rufen erschien ein hübsches frisches
Weibchen mit roten Backen und schwarzen glänzenden Augen und
eine Schar Kinder, die alle der Mutter glichen.
Die junge Frau wurde verlegen, als sie des Fremden ansichtig
wurde, und die Kinder umdrängten sie, wie die
Küchlein.
Aber Anton sagte: »Das ist unser Herr Marquis.
Toinette, Kinder, gebt hübsch die Hand.«
Da bewillkommneten ihn alle und die Frau schickte sich
allsogleich an, eine Mahlzeit zu bereiten, um den Gast auf das Beste zu
ehren.
Im Dorfe hatte sich die Nachricht von der Rückkunft
des Gutsherrn wie ein Lauffeuer verbreitet und alt und jung kam herbei,
um ihn zu sehen und ihm den Willkommgruß zu bieten.
Louis war aufrichtig erfreut und gerührt.
Nachmittag begab er sich in Begleitung Antons aufs
Schloß.
Der einst so stolze, stattliche Herrensitz sah trostlos aus.
Der scharfe Wind der Provence, der Mistral, hatte an Türen und
Fensterläden gerüttelt, bis er sie herausgerissen
hatte, Regen und Sonnenschein hatten am Zerstörungswerk weiter
gearbeitet und waren ins Innere gedrungen.
Die kostbaren Tapeten, Vorhänge, Decken hingen in
Fetzen, die Möbelstoffe waren zerfallen, mottenzerfressen
– es sah fürchterlich aus.
Dumpf widerhallten Louis' Schritte in den hohen öden
Sälen und oft stockte sein Fuß, ihm war's, als
müsse plötzlich sein Vater erscheinen und ihn drohend
fragen: »Was hast du aus unserem Hause, aus unserer Ehre
gemacht?« Ihm wurde unheimlich zu Mute und er eilte, wieder
ins Freie zu kommen. Als sie im Garten waren, wandte er sich an Anton
und sagte: »Ihr guter Vater hätte das wenige
Mobiliar, das ich noch zurückgelassen hatte, verwerten sollen,
statt es zum Mottenfraß werden zu lassen.«
»Ohne Auftrag durfte er es ja nicht.«
»Das Schloß wird bald ebenso unbrauchbar
sein, wie die Möbel und da ich leider nicht reich genug bin,
um es herstellen zu lassen, gedenke ich es zu verkaufen –
falls sich ein Käufer für die Ruine findet.«
Anton dachte, daß er das Häuschen, das er
von seinen: Vater geerbt, in welchem der würdige Greis gelebt
hatte und gestorben war, um keinen Preis verkaufen würde und
der Herr Marquis wollte sich von der letzten Scholle
väterlicher Erde, die ihm noch gehörte, trennen! Er
konnte es nicht begreifen! Doch machte er darüber keine
Bemerkung, sondern sagte nur: »Zu verkaufen wär's
schon, nur dürfte es nicht teuer sein. Es ist hier in der
Nähe ein Mann, der solche Geschäfte macht, er ist
Güterhändler, der gern billig kauft und teuer
verkauft – ein geriebener Kerl!«
»Wann könnte ich den Mann
sprechen?« fragte Louis. »Und wie heißt
er?«
»Er heißt Tongeroux und wir können
gleich zu ihm gehen, er wohnt gerade gegenüber, am anderen
Rhoneufer, wir brauchen uns nur durch den Fährmann
übersetzen zu lassen.«
Während der Schiffer sie über den
Fluß ruderte, erzählte Anton dem Marquis,
daß Tongeroux ein abscheulich schlechter Mensch sei. Er habe
vor Jahren eine alte Dienerin der verstorbenen Gräfin von
Laverberie, namens Milhonne, geheiratet, trotzdem sie schon
fünfzig Jahre zählte und er um die Hälfte
jünger war.
»Er nahm sie nur des Geldes wegen,«
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