Die Akte Nr. 113
sie. »Und
was deinen kleinen Fehltritt betrifft – ei, so ist das gar
nicht so schlimm, solche Dinge kommen alle Tage vor, das hindert nicht,
daß du eine brave, treue Frau wirst, du wirst ihn
glücklich machen und selber glücklich werden. Er wird
nie etwas erfahren, denn meine Vorsichtsmaßregeln haben die
Vergangenheit für dich ausgelöscht.«
In dieser Weise sprach die Gräfin lange auf Valentine
ein, aber das sonst so willenlose Geschöpf widerstand.
»Ich kann nicht, Mutter, ich kann nicht,«
wiederholte sie immer wieder.
Da aber die Gräfin nicht aufhörte, in sie zu
dringen, warf sie sich ihr zu Füßen und bat sie, ihr
wenigstens einige Stunden der Überlegung zu gewähren.
Die Gräfin triumphierte. Nun hatte sie gewonnenes
Spiel.
»Schön,« sagte sie,
»überlege, wähle, ob dir das Glück
und die Ruhe deiner Mutter weniger gelten, als eine höchst
überflüssige, sogenannte Aufrichtigkeit.«
Sie ging und ließ die arme Valentine
unschlüssig, verzweifelt zurück.
Durch die Gewalttätigkeit ihrer Mutter, die seit
jeher jede freie Willensäußerung in ihr
unterdrückte, befand sich die Unglückliche in einem
geistigen Zustande, in dem sie nicht mehr zu erkennen vermochte, was
Recht und was Pflicht sei. Ihr Gewissen folterte sie, als sie sich die
Fragen vorlegte: »Darf ich meine Mutter der Not, dem Elend
preisgeben? Aber darf ich denn die Liebe und das Vertrauen eines
rechtschaffenen Mannes so schmählich
mißbrauchen?«
Ach, was sie auch tun mochte, Reue und Gewissensqualen
würden sie ihr ganzes zukünftiges Leben lang foltern,
sie elend machen!
Wie sie sich nach einem Freunde, einem Ratgeber sehnte! Sie
war so einsam, so schrecklich allein! Seit Gaston tot war –
denn er war gewiß nicht mehr am Leben, sonst würde er
ihr doch in diesen vier Jahren ein Zeichen gegeben haben! –
Seit sie ihn verloren, hatte sie auf der weiten Welt niemand, niemand,
dem sie sich anvertrauen konnte, der sie verstanden hätte!
–
Valentine hatte einen unruhigen Tag, eine schlaflose Nacht und
als der Morgen herandämmerte, sagte sie sich: »Nein,
ich kann nicht, ich kann nicht!«
Als aber dann der Gast da war, neben ihr saß und sie
die drohenden Blicke ihrer Mutter auf sich gerichtet fühlte,
fehlte ihr der Mut.
Sie nahm sich vor, später mit ihm zu sprechen,
vielleicht einmal in Abwesenheit der Mutter, diese aber war viel zu
klug, um ihr je diese Möglichkeit zu gewähren, sie
ließ sie nie aus den Augen.
André Fauvel hatte nach der ersten Einladung von der
Gräfin die formelle Erlaubnis erhalten, sich um die Gunst
Valentines zu bewerben. Sein Benehmen dem jungen Mädchen
gegenüber war so zart, rücksichtsvoll und aufmerksam,
daß ihr ganz warm ums Herz wurde. Ihr Leben war so liebeleer,
so freudenarm, jetzt fühlte sie sich geliebt, wußte,
daß wenn sie die Gattin dieses edlen jungen Mannes
würde, sie geborgen wäre. Sie gestand sich:
»hier harrt meiner das Glück,« aber gleich
darauf fragte sie sich: »darf ich es annehmen, bin ich dessen
würdig?«
Die Mutter ließ ihr keine Zeit zur Besinnung, die
Vorbereitungen zur Hochzeit wurden mit Beschleunigung getroffen,
Besuche gemacht und empfangen, Einkäufe für die
Ausstattung besorgt und ein ganzes Heer von Schneiderinnen
beschäftigt.
Die Gräfin zeigte sich gegen Valentine
ungewöhnlich freundlich, nur klagte sie über die
Gläubiger, die sie so ungestüm mahnten und
drängten, zeigte ihr Wechsel und Rechnungen, die sie nicht
einlösen, nicht bezahlen konnte, und brach zum Schluß
jedesmal in die Worte aus: »Gott gebe, daß wir nicht
noch vor deiner Verheiratung von Haus und Hof verjagt werden.«
Der Vorabend der Hochzeit war gekommen. Eine große
Gesellschaft war geladen, aber plötzlich fühlte sich
Valentine von quälender Herzensangst gepeinigt, sie
flüchtete, um einen Augenblick allein zu sein, in ihr Boudoir,
dort warf sie sich aufs Sofa und brach in Tränen aus.
Ihr Bräutigam hatte ihre Blässe, ihre Unruhe
bemerkt, und als sie sich entfernte, folgte er ihr voll Besorgnis.
Es dunkelte, und da er aus dem hellerleuchteten Saal kam,
gewahrte er die in die Sofakissen gedrückte Gestalt nicht
sogleich, aber ihr Schluchzen drang an sein Ohr. Bestürzt trat
er auf sie zu, beugte sich liebevoll über sie und fragte
zärtlich: »Warum weinst du? Hast du kein Vertrauen zu
mir? Weißt du denn nicht, daß ich dein bester Freund
bin, dem du alles, alles, was dir am Herzen
Weitere Kostenlose Bücher