Die Akte ODESSA: Thriller (German Edition)
gebrandmarkt sei, die Deutsche begangen hatten. Damals hatte er das akzeptiert, ohne überhaupt zu begreifen, wovon die Rede war.
Lange Zeit war er nicht dahintergekommen, was die Lehrer in der ersten Zeit nach dem Krieg damit eigentlich gemeint hatten. Natürlich konnte man Lehrer und Eltern danach fragen, aber die schienen nie eine Antwort zu wissen. Erst Jahre später, als er zum jungen Mann heranwuchs, hatte er das eine oder andere darüber gelesen, und obschon er das, was er dabei erfuhr, abscheulich fand, vermochte er sich nicht persönlich betroffen zu fühlen. Das alles war in einer ganz anderen Zeit und in einer ganz anderen Welt geschehen und lag lange, sehr lange zurück.
Er war nicht dabeigewesen, als es geschah, sein Vater war nicht dabeigewesen und auch seine Mutter nicht. Irgendeine innere Stimme hatte ihm gesagt, daß Peter Miller mit alldem nichts zu schaffen habe, und so waren die Namen, die Daten und alle Einzelheiten für ihn immer abstrakt geblieben. Er wußte nicht, warum Karl Brandt das Thema zur Sprache brachte.
Brandt rührte in seinem Kaffee. Offenkundig war er ebenfalls um Worte verlegen und schien nicht zu wissen, wie er beginnen sollte.
»Der alte Mann gestern abend«, sagte er schließlich, »das war ein deutscher Jude. Er hat viele Jahre im Konzentrationslager verbracht.«
Miller rief sich die Züge des Toten auf der Bahre von gestern abend ins Gedächtnis zurück. Hatten sie alle so ausgesehen, als sie starben? Aber das war absurd. Der Mann mußte vor nunmehr achtzehn Jahren von den Alliierten befreit worden sein; er hatte überlebt und ein ansehnliches Alter erreicht. Aber die Erinnerung an das Gesicht ließ sich nicht einfach fortwischen, und plötzlich wußte Miller, daß es ihn gestern nacht im Traum verfolgt hatte. Er war, zumindest bewußt, nie jemandem begegnet, der im Konzentrationslager gesessen hatte. Und selbstverständlich war er auch niemals einem dieser SS-Massenmörder begegnet, das stand fest. Das hätte er gespürt. Einen solchen Mann würde man schließlich noch von seinen Mitmenschen unterscheiden können.
Er dachte an den Eichmann-Prozeß in Jerusalem, der soviel Aufsehen erregt hatte. Wochenlang waren die Zeitungen voll davon. Ihm fiel das Gesicht hinter der schußsicheren Glasscheibe ein, und er erinnerte sich, daß es die Alltäglichkeit, die deprimierende Alltäglichkeit dieses Gesichts gewesen war, was ihn damals am meisten beschäftigt hatte. Erst die Prozeßberichte hatten ihm eine vage Vorstellung davon vermittelt, wie die SS vorgegangen war und wie es überhaupt zu all dem hatte kommen können. Aber es war ausschließlich um Dinge gegangen, die sich in Polen, in Rußland, Ungarn und der Tschechoslowakei abgespielt hatten und weit zurücklagen. Er selbst hatte nichts damit zu tun.
Das Gespräch war ihm unbehaglich.
»Na, und?« fragte er.
Statt zu antworten, holte Brandt aus seinem Attachékoffer ein in braunes Packpapier eingewickeltes Päckchen hervor und schob es Miller über den Tisch zu.
»Der alte Mann hat ein Tagebuch hinterlassen. So alt war er übrigens gar nicht. Sechsundfünfzig. Offenbar hat er die Aufzeichnungen, die er im KZ machte, in seinen Fußlappen versteckt. Nach dem Krieg hat er sie dann alle übertragen. Sie bilden den Kern des Tagebuchs.«
Miller betrachtete das Paket mit mäßigem Interesse.
»Wo hast du es gefunden?«
»Es lag neben seiner Leiche. Ich habe es an mich genommen und gestern nacht durchgelesen.«
»Schlimm?«
»Grauenhaft. Ich habe nicht geahnt, daß es so entsetzlich war. Was die mit denen gemacht haben, meine ich.«
»Und was soll ich damit anfangen?«
Brandt zuckte mit den Achseln.
»Ich dachte, du könntest vielleicht irgendwas draus machen«, sagte er. »Etwas für die Zeitung oder so.«
»Wem gehört das Tagebuch?«
»Streng genommen Taubers Erben. Aber die sind wohl kaum ausfindig zu machen. Also bleibt es bei der Polizei und kommt zu den Akten. Du kannst es haben, wenn du willst. Sag nur keinem, daß du es von mir hast. Ich will keinen Ärger haben.«
Miller zahlte, und sie traten auf die Straße hinaus.
»Also gut, ich werde es lesen. Aber ich kann dir nicht versprechen, daß da eine große Sache draus wird. Vielleicht reicht es für einen Illustriertenartikel.
»Du bist doch ein zynischer Hund«, sagte Brandt mit einem schwachen Lächeln.
»Nein«, sagte Miller. »Aber ich interessiere mich wie die Mehrzahl meiner Zeitgenossen nun einmal hauptsächlich für das, was hier und heute
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