Die Akte ODESSA: Thriller (German Edition)
der Türen hatte ich sofort die Augen zugekniffen, um sie zu schützen. Bei dem Gedränge der Körper leerte sich der Waggon zur Hälfte wie von selbst; die Menschen stürzten in einer stinkenden, taumelnden Masse auf den Bahnsteig. Ich hatte neben den Türen im hinteren Teil des Waggons gestanden und trat, vorsichtig durch halbgeschlossene Lider in das blendende Tageslicht blinzelnd, aufrecht auf den Bahnsteig hinunter.
Die SS-Wachen, die die Schiebetüren geöffnet hatten – verrohte Männer mit kriminellen Physiognomien, die in einer Sprache fluchten und brüllten, die ich nicht verstand –, wichen mit angewiderten Gesichtern ein paar Schritte zurück. Im Viehwaggon waren etwa dreißig niedergetrampelte Männer liegengeblieben. Sie würden sich nie wieder erheben. Die auf dem Bahnsteig kauernden restlichen Deportierten, ausgehungerte und halbgeblendete Gestalten in stinkenden, dampfenden Lumpen, versuchten taumelnd und strauchelnd auf den Beinen zu bleiben. Die geschwollene, schwarze Zunge klebte uns vor Durst am Gaumen, und unsere Lippen waren ausgetrocknet und aufgesprungen. Den Bahnsteig entlang leerten sich etwa vierzig weitere Waggons aus Berlin und achtzehn aus Wien. Ihre Fracht bestand etwa zur Hälfte aus Frauen und Kindern. Viele Frauen und die meisten Kinder waren nackt, kotbeschmiert und in einem genauso erbarmungswürdigen Zustand wie wir. Einige der Frauen, die aus den Waggons in das Licht hinausstaumelten, trugen ihr totes Kind in den Armen. Die Wachen rannten den Bahnsteig hinauf und hinunter und knüppelten die Deportierten mit Stöcken zu einer Art Marschkolonne zusammen, die sich unter ihrer Bewachung auf den Weg zur nächsten Stadt machte. Aber was für eine Stadt war das? Und in welcher Sprache brüllten diese Männer auf uns ein? Später erfuhr ich es, es war Riga und die SS-Leute waren örtlich rekrutierte Letten – ebenso fanatische Judenhasser wie ihre Spießgesellen aus Deutschland. Tiere in Menschengestalt. Hinter den Wachen duckten sich Männer in fleckigen Hemden und Hosen; jeder trug auf Brust und Rücken ein großes J. Sie bildeten das vom Ghetto herbeibeorderte Spezialkommando, das die Toten aus den Viehwaggons herausschleifen und außerhalb der Stadt verscharren mußte. Das Spezialkommando wurde von einem halben Dutzend Männer bewacht, die auf Brust und Rücken ebenfalls das J trugen; sie waren jedoch mit Axtstielen bewaffnet und durch Armbinden gekennzeichnet – jüdische Kapos, die dafür, daß sie sich für diese Aufgabe hergaben, besseres Essen und andere Vergünstigungen erhielten.
Als sich meine Augen an die Helligkeit gewöhnt hatten, sah ich im Schatten des Bahnhofsdachs ein paar deutsche SS-Leute stehen. Einer stand auf einer Transportkiste; die vielen tausend menschlichen Elendsgestalten, die aus den Waggons quollen und den Bahnsteig überfluteten, betrachtete er mit verkniffenem, aber wohlgefälligem Lächeln. Er klopfte mit einer geflochtenen Lederpeitsche auf seinen rechten Reitstiefel. Die graugrüne Uniform mit dem zweifachen silbernen Blitz der Siegrune auf dem schwarzen Grund des rechten Kragenspiegels saß ihm wie angegossen. Die Rangabzeichen auf dem linken Kragenspiegel wiesen ihn als Hauptsturmführer aus. Er war hochgewachsen und schlank, hatte hellblondes Haar und blaßblaue Augen. Sehr bald sollte ich erfahren, daß er ein eiskalter Sadist und schon damals unter dem Namen »der Schlächter von Riga« bekannt war; die Alliierten übernahmen später diese Bezeichnung, als sie nach ihm fahndeten. Das war der erste Eindruck, den ich von SS-Hauptsturmführer Eduard Roschmann erhielt …
Am 22. Juni 1941 hatte die Wehrmacht, gegliedert in drei Heeresgruppen, um 5 Uhr morgens mit 140 Divisionen die russische Grenze überschritten. Der größte aller bis dahin von Hitler unternommenen Eroberungszüge begann. Jeder Heeresgruppe folgten die SS-Sonderkommandos. Sie waren von Hitler, Himmler und Heydrich mit der Ermordung der gefangengenommenen russischen Kommissare sowie der Mitglieder ländlicher jüdischer Gemeinden beauftragt, soweit sie in den von den deutschen Armeen überrannten weiten Gebieten angesiedelt waren. Ihr Auftrag schloß die Zernierung der städtischen jüdischen Gemeinden in den Ghettos jeder größeren Stadt zwecks späterer »Sonderbehandlung« mit ein.
Am 1. Juli 1941 eroberte die Wehrmacht Riga, die Hauptstadt von Lettland, und vierzehn Tage später rückten die ersten SS-Vorauskommandos ein. Die erste SD- und
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