Die Akte ODESSA: Thriller (German Edition)
Schuld ebenso wie Erlösung an den einzelnen gebunden ist.
Als ich die Konzentrationslager von Riga und Stutthof und den Todesmarsch nach Magdeburg überlebt hatte und die alliierten Truppen im April 1945 meinen Körper – einen lebenden Leichnam – befreiten und nur meine Seele in Ketten ließen, da gab es in mir nur Haß auf die Welt. Ich haßte die Menschen und die Bäume und die Steine, denn sie hatten sich gegen mich verschworen und mich leiden gemacht. Vor allem aber haßte ich die Deutschen. Ich fragte mich damals, wie ich mich schon in den vier Jahren zuvor immer wieder gefragt hatte, warum der Herr sie nicht strafte, sie nicht – bis zum letzten Mann, Weib und Kind – niedermachte und ihre Städte und Häuser für immer vom Angesicht der Erde tilgte. Und weil Er es nicht tat, haßte ich auch Ihn, haderte mit Ihm, weil Er mich und mein Volk, das Er zu dem Glauben verleitet hatte, auserwählt zu sein, verlassen hatte, ja, ich erklärte, es gibt Ihn nicht.
Aber in den Jahren, die seither vergangen sind, habe ich wieder gelernt zu lieben; die Steine und die Bäume zu lieben, den Himmel über ihnen und den Strom, an dem diese Stadt liegt; ich liebe die herrenlosen Hunde und Katzen, das Gras, das aus den Fugen des Kopfsteinpflasters sprießt, und die Kinder, die auf der Straße vor mir weglaufen, weil ich so häßlich bin. Ich kann es ihnen nicht verdenken. Es gibt ein französisches Sprichwort: »Alles verstehen heißt alles vergeben.« Wenn man die Menschen versteht, ihre Leichtgläubigkeit und ihre Ängste, ihre Gelüste und ihre Gier nach Macht, ihre Unwissenheit und ihre Unterwürfigkeit gegenüber dem Mann, der am lautesten schreit, wenn man das alles begreift, kann man ihnen vergeben. Ja, man kann ihnen selbst das vergeben, was sie getan haben. Aber vergessen kann man es nicht.
Es gibt einige Männer, deren Schuld über jedes begreifliche Maß hinausgeht und daher auch nicht vergeben werden kann. Und hier ist unser Versagen zu suchen. Denn sie sind noch unter uns, sie leben in den Städten mit uns, sie arbeiten in den Büros mit uns, essen mit uns in den Kantinen, sie lächeln uns an und schütteln uns die Hand und reden anständige Männer mit »Kamerad« an. Daß sie – beileibe nicht als Ausgestoßene, sondern als geachtete Mitbürger – weiterleben und mit ihrer ungesühnten Schuld ein ganzes Volk weiterhin in Verruf bringen dürfen, das ist unsere wahre Niederlage. Und diese Niederlage haben wir selbst verschuldet, du und ich, weil wir versagt haben, jämmerlich versagt.
Im Lauf der Zeit fand ich zu meiner Liebe zum Herrn zurück, und ich bat ihn um Vergebung für die Sünden wider seine Gebote. Ich habe mich vieler Sünden schuldig gemacht.
Shema Israel, Adonai elohenu, Adonai ehod …
Die ersten zwanzig Seiten des Tagebuches schilderten Taubers Kindheit und seine frühe Jugend in Hamburg. Es berichtet von seinem Vater, der aus der Arbeiterklasse stammte und im Ersten Weltkrieg mit höchsten Auszeichnungen dekoriert wurde, sowie vom Tod seiner Eltern im Jahre 1933, kurz nach der Machtergreifung Hitlers. Ende der dreißiger Jahre hatte er ein Mädchen namens Esther geheiratet, arbeitete in einem Architekturbüro und blieb dank der Intervention seines Arbeitgebers bis 1941 von rassischer Verfolgung verschont. In Berlin, wohin er zu einer Besprechung mit einem Bauherrn gereist war, wurde er festgenommen. Nach einem Aufenthalt in einem Durchgangslager wurde er in einem verplombten Viehwagen mit anderen jüdischen Leidensgenossen in den Osten abtransportiert.
Ich erinnere mich nicht genau daran, nach wie vielen Tagen und Nächten der Zug schließlich am Ziel war. Vielleicht sechs Tage und sieben Nächte, seit wir in Berlin verladen worden waren und man die Waggons verriegelt hatte. Plötzlich stand der Zug. Das Licht, das durch die Ritzen drang, verriet mir, daß es draußen Tag sein mußte. Mir war übel vor Erschöpfung und dem Gestank im Waggon; in meinem Kopf drehte sich alles.
Von draußen hörte ich Rufe; die Riegel wurden zurückgelegt und die Türen aufgeschoben. Es war gut, daß ich, der einmal ein weißes Hemd und gebügelte Hosen getragen hatte, mich nicht selbst sehen konnte. (Krawatte und Jackett, die ich in dem stickigen Viehwagen ausgezogen hatte, waren mir längst abhanden gekommen.) Der Anblick, den meine Leidensgenossen boten, war schlimm genug.
Als das gleißend helle Tageslicht in den Waggon fiel, schlugen sie die Arme vor die Augen und schrien vor Schmerz. Beim Öffnen
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