Die Akte ODESSA: Thriller (German Edition)
passiert. Was ist los mit dir? Ich hätte eigentlich angenommen, daß zehn Jahre bei der Kripo ausreichen müßten, um einen sturen, abgebrühten Bullen aus dir zu machen. Diese Geschichte hat dir wohl echt zugesetzt, was?«
Brandt lächelte nicht mehr. Er blickte auf das Päckchen unter Millers Arm und nickte zögernd.
»Ja. Ja, das hat sie. Daß es so war, wie Tauber schreibt, habe ich nie wahrhaben wollen. Außerdem ist es eben nicht so, daß das alles längst der Geschichte angehört und damit vorbei und erledigt ist. Diese Story da endete gestern abend hier in Hamburg. Wiedersehen, Peter.«
Er nickte Miller zu, wandte sich um und ging rasch fort. Wie sehr er sich, was das Ende der Geschichte betraf, getäuscht hatte, konnte er nicht ahnen.
Kapitel 2
Kurz nach 15 Uhr war Peter Miller wieder in seiner Wohnung. Er warf das in braunes Packpapier eingeschlagene Manuskript auf den Wohnzimmertisch und ging in die Küche, um sich eine große Kanne Kaffee zu machen, bevor er mit der Lektüre des Tagebuchs begann.
Dann machte er es sich in seinem Lieblingssessel bequem, stellte sich eine Tasse Kaffee in Reichweite, zündete eine Zigarette an und öffnete das Päckchen. Das Tagebuch steckte in einem Lose-Blatt-Hefter, dessen Pappumschlag mit einem mattschwarzen Kunststoff überzogen war. Die ringförmigen Klammern im Heftrücken konnte man öffnen und schließen und so die Blätter des Tagebuchs herausnehmen oder auch, falls erforderlich, weitere einfügen. Der Hefter enthielt einhundertfünfzig engbeschriebene Blätter. Die Schreibmaschine mußte recht altersschwach gewesen sein, denn einige Buchstaben tanzten teils ober-, teils unterhalb der Zeile aus der Reihe und andere waren beschädigt oder bis zur Unkenntlichkeit abgenutzt. Die Seiten mußten größtenteils schon vor Jahren geschrieben worden sein, denn sie waren zwar säuberlich und glatt, aber doch zu einem großen Teil sehr vergilbt. Die ersten und die letzten Seiten waren jedoch neu und offenbar erst vor wenigen Tagen beschrieben worden: es war das Vorwort und ein Epilog. Aus der Datierung ging hervor, daß beides am 21. November – also erst vor zwei Tagen – verfaßt worden war. Der Mann, nahm Miller an, hatte diese Seiten wohl geschrieben, als er bereits entschlossen war, sich das Leben zu nehmen.
Miller überflog ein paar Sätze auf der ersten Seite und stellte fest, daß sie in klarem, präzisem Deutsch geschrieben waren und den Stil eines gebildeten, kultivierten Mannes verrieten. Auf dem vorderen Buchdeckel war ein weißes viereckiges Stück Papier aufgeklebt und darüber, um es sauberzuhalten, ein ebenfalls viereckiges, aber etwas größeres Stück Zellophanpapier. Auf dem weißen Papier stand in großen, mit schwarzer Tinte geschriebenen Blockbuchstaben: »Tagebuch von Salomon Tauber«. Miller setzte sich in seinem Sessel zurecht, schlug die erste Seite auf und begann zu lesen.
TAGEBUCH VON SALOMON TAUBER
Vorwort
Mein Name ist Salomon Tauber, ich bin Jude und im Begriff zu sterben. Ich habe beschlossen, meinem Leben ein Ende zu setzen, weil es wertlos geworden ist und mir nichts mehr zu tun bleibt. Was ich aus meinem Leben zu machen versucht habe, ist mir nicht gelungen: Meine Anstrengungen sind vergebens geblieben. Denn das Böse, das ich gesehen habe, hat nicht nur überlebt, es blüht und gedeiht – einzig das Gute ist dahingesunken in Staub und Spott. Die Freunde, die ich gekannt habe, die Dulder und Opfer, sind tot, und ihre Peiniger leben überall um mich herum. Bei Tage sehe ich ihre Gesichter in den Straßen, und in der Nacht sehe ich das Gesicht meiner Frau Esther, die auch schon lange tot ist. Ich bin nur deswegen so lange am Leben geblieben, weil es etwas gab, was ich tun wollte, etwas, was ich noch sehen wollte, und jetzt weiß ich, daß mir das nie vergönnt sein wird.
Ich hege keinen Haß und keine Bitterkeit gegen das deutsche Volk, denn es ist ein gutes Volk. Völker sind nicht böse; nur einzelne Menschen sind es. Der englische Philosoph Burke hatte recht, als er schrieb: »Ich sehe keine Möglichkeit, einen Schuldspruch für eine ganze Nation zu fällen.« Es gibt keine Kollektivschuld. Schon die Bibel berichtet, daß der Herr Sodom und Gomorrha wegen der Lasterhaftigkeit der Männer, die darin lebten, zerstören und auch ihre Frauen und Kinder nicht verschonen wollte, daß aber ein gerechter Mann unter ihnen lebte, der wegen seiner Rechtschaffenheit vor dem Zorn des Herrn bewahrt blieb. Das beweist, daß
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