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Die Akte ODESSA: Thriller (German Edition)

Die Akte ODESSA: Thriller (German Edition)

Titel: Die Akte ODESSA: Thriller (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frederick Forsyth
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Gastod.
    Am 3.   März flüsterte man sich im Ghetto zu, daß noch ein Dünamünde-Konvoi abgehen sollte, und tatsächlich kündigte ihn Roschmann beim Morgenappell an. Aber diesmal drängte sich niemand um den Vorzug, einsteigen zu dürfen. Grinsend begann Roschmann die Front abzugehen. Denen, die vortreten sollten, tippte er lässig mit der Reitpeitsche auf die Brust. Hinterlistig fing er mit der vierten, der hintersten Reihe an, wo die meisten. Schwachen, Gebrechlichen, Alten und zur Arbeit Untauglichen standen. Eine alte Frau hatte damit gerechnet und sich in die erste Reihe gestellt. Sie war vielleicht fünfundsechzig Jahre alt. In der verzweifelten Hoffnung, durch diesen Trick am Leben zu bleiben, hatte sie Schuhe mit hohen Absätzen und schwarze Seidenstrümpfe angezogen, einen Rock, der so kurz war, daß er nicht einmal ihre Knie bedeckte, und obendrein trug sie noch einen ausgefallenen Hut. Sie hatte sich die Wangen mit Rouge geschminkt und die Lippen karminrot bemalt. Sie wäre in jeder Häftlingsgruppe aufgefallen, aber sie gab sich der Illusion hin, durch ihre Aufmachung für ein junges Mädchen gehalten zu werden.
    Als Roschmann sie sah, blieb er stehen und starrte sie ungläubig an. Dann breitete sich ein freudiges Lächeln auf seinem Gesicht aus.
    »Na, wen haben wir denn hier?« rief er. Er deutete mit seiner Reitpeitsche auf sie, um die Aufmerksamkeit seiner Spießgesellen auf sie zu lenken, die in der Mitte des Platzes standen und die bereits ausgesuchten Häftlinge bewachten. »Hätten Sie denn gar keine Lust auf eine hübsche kleine Fahrt nach Dünamünde, meine Gnädigste?«
    »Nein, mein Herr«, erwiderte die alte Frau, zitternd vor Angst.
    »Und wie alt sind wir denn?« fragte Roschmann höhnisch. Seine SS-Kumpane brachen in schallendes Gelächter aus.
    »Siebzehn? Achtzehn? Oder schon Zwanzig?«
    Die knochigen Knie der alten Frau begannen zu zittern.
    »Ja, mein Herr«, flüsterte sie.
    »Wunderbar«, rief Roschmann aus. »Ich mag hübsche Mädchen. Na, dann gehen Sie mal zur Mitte des Platzes, damit wir auch alle sehen können, wie jung und schön Sie sind.«
    Er packte sie beim Arm und zerrte sie zur Mitte des Platzes. Dann ließ er sie los und sagte: »Nun, Gnädigste, da Sie so jung und so hübsch sind, wäre es doch nett, wenn Sie uns ein bißchen was vortanzen, wie?«
    Sie stand da, bebend vor Kälte und vor Angst und flüsterte etwas, was wir nicht verstanden.
    »Wie bitte?« brüllte Roschmann. »Sie können nicht tanzen? Oh, ich bin ganz sicher, daß ein so hübsches junges Ding wie Sie tanzen kann. Das wäre ja noch schöner!«
    Seine Spießgesellen von der deutschen SS klatschten sich vor Vergnügen auf die Schenkel. Die Letten verstanden zwar kein Deutsch, fingen aber auch an zu grinsen. Die alte Frau schüttelte den Kopf. Roschmanns Lächeln verschwand.
    »Los, tanzen!« kommandierte er.
    Sie machte ein paar zaghafte Bewegungen und blieb wieder stehen. Roschmann zog die Luger, spannte und entsicherte sie, und dann schoß er wenige Zentimeter vor ihre Füße in den Sandboden. Sie sprang vor Schreck mit einem Satz in die Höhe.
    »Tanz gefälligst für uns du häßliche, alte jüdische Hexe. Los, tanz jetzt, tanz, tanz!« schrie er und feuerte jedesmal, wenn er »tanz!« schrie, dicht vor ihre Füße in den Sandboden.
    Er schoß alle drei Reservemagazine aus seiner Pistolentasche leer und ließ sie eine halbe Stunde lang tanzen und immer höher springen, und ihr kurzer Rock schlug ihr bei jedem Satz bis zur Hüfte hoch. Schließlich sank sie zu Boden und blieb erschöpft liegen. Sie konnte nicht mehr aufstehen, ob er sie nun erschoß oder nicht. Roschmann feuerte seine drei letzten Patronen so nahe vor ihrem Gesicht ab, daß ihr der Sand in die Augen spritzte. In der Stille, die zwischen den Schüssen herrschte, war über den ganzen Appellplatz nur der rasselnde, pfeifende Atem der alten Frau zu hören.
    Als er keine Munition mehr hatte, schrie er weiter »tanz!« und trat ihr mit seinem Stiefel in den Bauch. Das alles spielte sich in absolutem Schweigen vor unseren Augen ab, bis mein Nebenmann zu beten begann. Er war ein kleiner bärtiger Chassid und trug noch immer seinen längst zerlumpten langen schwarzen Mantel. Die meisten von uns trugen Mützen mit Ohrenschützern wegen der Kälte; er aber hatte nur den breitkrempigen schwarzen Hut seiner Sekte auf. Mit zitternder, aber von Mal zu Mal lauter werdender Stimme rezitierte er immer wieder die Shema Israel. Mir war klar, daß

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