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Die Akte ODESSA: Thriller (German Edition)

Die Akte ODESSA: Thriller (German Edition)

Titel: Die Akte ODESSA: Thriller (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frederick Forsyth
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sich Roschmann in seiner gefährlichsten Stimmung befand; ich betete schweigend und hoffte, daß der Chassid verstummen würde. Aber er tat es nicht. »Höre, o Israel …«
    »Halt den Mund!« zischte ich.
    » Adonai elohenu … Der Herr ist unser Gott …«
    »Sei still! Du bringst uns noch alle um damit.«
    »Der Her ist allmächtig … Adonai Eha-a-ad. «
    Wie ein Vorsänger in der Synagoge dehnte er die letzte Silbe in der überlieferten Weise – wie Rabbi Akiba, als er im Amphitheater zu Caesarea auf Befehl von Tinius Rufus hingerichtet wurde. In diesem Augenblick hörte Roschmann auf, die alte Frau anzuschreien. Er hob witternd den Kopf und wandte sich um. Da ich den Chassid um Haupteslänge überragte, sah er mich an.
    »Wer hat da geredet?« schrie er und kam mit langen Schritten rasch auf mich zu.
    »Du da – raustreten!« Es bestand kein Zweifel, daß er auf mich deutete. Ich dachte: Das ist also das Ende. Und wenn schon, es spielt keine Rolle. Es mußte ja geschehen, ob jetzt oder ein andermal. Ich trat aus der Reihe, als er vor mir stand.
    Er sagte nichts, aber sein Gesicht zuckte wie das eines Tobsüchtigen. Dann verwandelte sich seine Miene zu dem wölfischen Lächeln, das jeder im Ghetto fürchtete; es jagte selbst den lettischen SS-Männern Furcht und Schrecken ein.
    Seine Hand fuhr blitzschnell durch die Luft; niemand hatte die Bewegung wahrgenommen. Ich fühlte nur einen dumpfen Schlag gegen meine linke Gesichtshälfte und hörte gleichzeitig einen ungeheuren Knall, als sei in unmittelbarer Nähe meines Trommelfells eine Bombe explodiert. Ich spürte es ganz deutlich, und doch war es so, als sei ich nicht wirklich davon betroffen –: Meine Haut riß von der Schläfe bis zum Mund wie modriges Pergament. Noch bevor das Blut floß, hatte Roschmann schon wieder die Hand gehoben, und diesmal riß mir seine Peitsche mit dem gleichen ohrenbetäubenden Knall die andere Gesichtshälfte auf. Roschmann hatte eine 50   cm lange Reitpeitsche; der Griff war eine mit Leder umwickelte federnde Stahlspirale, am anderen Ende befand sich der aus dünnen Lederstreifen geflochtene Riemen. Er schlug sie von oben nach unten und zog den Riemen durch. Bei diesen Hieben zerriß Menschenhaut wie Seidenpapier. Wie das aussah, hatte ich oft mit ansehen müssen.
    Innerhalb von Sekunden tropfte mir das warme Blut vom Kinn auf die Jacke. Roschmann wandte sich von mir ab und deutete auf die alte Frau, die noch immer schluchzend mitten auf dem Platz kauerte:
    »Los, lade dir die alte Hexe auf und schaff sie zum Wagen«, bellte er.
    Und so hob ich die alte Frau auf und trug sie, während das Blut von meinem Kinn auf sie herabtropfte, die »Straße zum kleinen Hügel« hinunter zum Tor, wo der Gaskammerwagen stand. Wenige Minuten, bevor hundert weitere Opfer eintrafen, setzte ich sie im Inneren des Wagens ab und wollte mich wieder von ihr abwenden. Aber ihre knotigen Finger packten mein Handgelenk mit erstaunlicher Kraft und hielten mich fest. Sie kauerte auf dem Boden der fahrbaren Gaskammer und zog mich zu sich herab; dann tupfte sie mir mit einem kleinen Spitzentaschentuch, einem Überbleibsel aus besseren Tagen, das Blut aus dem Gesicht.
    Ihr Gesicht war mit Rouge, Wimperntusche, Tränen und Sand verschmiert, aber ihre dunklen Augen strahlten mich an wie Sterne.
    »Mein Sohn«, keuchte sie. »Du mußt leben. Schwöre mir, daß du leben wirst. Schwöre mir, daß du hier lebend herauskommst. Du mußt leben, damit du denen draußen in der Welt sagen kannst, was mit unserem Volk hier geschieht. Versprich es mir, schwöre es mir bei der Sefer Torah.«
    Und so schwor ich ihr, daß ich überleben würde, irgendwie, gleichgültig um welchen Preis. Danach ließ sie mich gehen. Taumelnd stolperte ich die Straße entlang in das Ghetto zurück, und auf halbem Wege verlor ich das Bewußtsein.
    Kurz nachdem ich die Arbeit wiederaufgenommen hatte, faßte ich zwei Entschlüsse. Der eine war, ein geheimes Tagebuch zu führen. Allnächtlich tätowierte ich mir mit einer Nadel und schwarzer Tinte Stichwörter und Daten in die Haut an Beinen und Füßen, damit ich sie eines Tages säuberlich auf Schreibpapier übertragen und damit über alles das, was in Riga geschehen war, Zeugnis ablegen konnte gegen die Verantwortlichen. Der zweite Entschluß war, Kapo zu werden – Mitglied der jüdischen Polizei.
    Dieser Entschluß fiel mir schwer; Kapos waren die Männer, die ihre jüdischen Mitmenschen zum Arbeitsplatz und zurück und oft genug auch

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