Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Akte ODESSA: Thriller (German Edition)

Die Akte ODESSA: Thriller (German Edition)

Titel: Die Akte ODESSA: Thriller (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frederick Forsyth
Vom Netzwerk:
schlimm werden, wie man zunächst befürchtet hatte. Aber wir hatten Roschmann noch nicht erlebt …
    Als der Herbst den Sommer und der Winter den Herbst ablöste, verschlechterten sich die Lebensbedingungen im Ghetto immer mehr. Jeden Morgen wurde die gesamte Bevölkerung – ein weit höherer Prozentsatz von Frauen und Kindern als von uns arbeitsfähigen Männern war bereits unmittelbar nach der Ankunft umgebracht worden-zum Appell auf dem Blechplatz zusammengetrieben. Namen wurden nicht aufgerufen, wir wurden nur gezählt und in Arbeitsgruppen eingeteilt. Tag für Tag verließ nahezu die gesamte Bevölkerung- Männer, Frauen und Kinder – in Marschkolonnen das Ghetto, um zwölf Stunden lang in den Handwerksbetrieben, die in wachsender Zahl in der näheren Umgebung des Ghettos entstanden, Zwangsarbeit zu leisten.
    Ich hatte behauptet, Tischler zu sein, was nicht der Wahrheit entsprach; aber als Architekt hatte ich oft genug Schreinern bei der Arbeit zugesehen, ich kannte mich daher genügend aus, um mich durchzumogeln. Ich war von der Überlegung ausgegangen, daß Schreiner immer gebraucht wurden, und war einem nahen Sägewerk zugeteilt worden. Dort wurden die Stämme aus den Kiefernwäldern zersägt und zu Fertigteilen verarbeitet für Einheitsbaracken zur Unterbringung der Truppen.
    Diese Knochenarbeit hätte auch die Gesundheit robuster Männer ruiniert, denn sie mußte sommers wie winters im Freien, in der Kälte und Feuchtigkeit der Tiefebene vor der lettischen Küste verrichtet werden …
    Unsere tägliche Verpflegungsration vor dem morgendlichen Abmarsch zur Arbeit bestand aus einem halben Liter sogenannter Suppe, die man zutreffender als schwach getrübtes Wasser hätte bezeichnen können; gelegentlich schwamm ein Stückchen Kartoffel darin. Am Abend, nach der Rückkehr ins Ghetto, gab es einen weiteren halben Liter mit einer Scheibe Schwarzbrot und einer schimmeligen Kartoffel.
    Lebensmittel ins Ghetto zu schmuggeln war ein Vergehen, auf das die Todesstrafe stand. Sie wurde noch am gleichen Tag beim Abendappell auf dem Blechplatz vor der versammelten Ghettobevölkerung durch Erhängen vollstreckt. Trotzdem mußte man dieses Risiko in Kauf nehmen. Es war die einzige Chance, am Leben zu bleiben.
    Jeden Abend standen Roschmann und einige seiner Schergen am Haupttor und machten Stichproben bei den Kolonnen, die ins Lager zurückkehrten. Sie riefen willkürlich einen Mann, eine Frau oder ein Kind aus der Kolonne heraus und befahlen ihnen, sich neben dem Tor auszuziehen. Wurde eine Kartoffel oder ein Stück Brot gefunden, so mußte die betreffende Person zurückbleiben, während die anderen zum Abendappell auf den Blechplatz weitermarschierten.
    Wenn alle dort versammelt waren, kam Roschmann mit den SS-Wachen und den zumeist etwa zehn bis fünfzehn des Lebensmittelschmuggels überführten Häftlingen die Straße zum Appellplatz entlangstolziert. Als erste bestiegen die männlichen Delinquenten das Galgengerüst; mit der Schlinge um den Hals mußten sie das Ende des Appells abwarten. Dann schritt Roschmann ihre Front ab. Er grinste den Todeskandidaten ins Gesicht und trat einem nach dem anderen den Stuhl unter den Füßen weg. Er hatte seinen Spaß daran, dies von vorn zu tun, damit der betreffende Häftling dabei sein Gesicht sehen konnte. Gelegentlich tat er auch nur so, als trete er den Stuhl weg, und zog überraschend seinen Fuß zurück. Er lachte schallend, wenn seinem Opfer, das sich schon am Strick zu hängen glaubte, klar wurde, daß es noch immer auf dem Stuhl stand, und heftig zu zittern begann. Manchmal beteten die Todeskandidaten zum Herrn, manchmal flehten sie auch um Gnade. Roschmann schätzte das. Er gab dann vor, schwerhörig zu sein, hielt die Hand ans Ohr und fragte: »Kannst du nicht etwas lauter sprechen? Was hast du gesagt?«
    Wenn er dann den Stuhl fortgestoßen hatte, wandte er sich an sein Gefolge und bemerkte launig: »Leute, ich werde mir wohl doch noch ein Hörgerät anschaffen müssen …!«
    Innerhalb weniger Monate war Eduard Roschmann für uns Häftlinge zum Inbegriff des Teuflischen geworden. Es gab kaum einen diabolischen Trick, den er nicht anwandte.
    Wenn eine Frau beim Lebensmittelschmuggel ertappt wurde, zwang Roschmann sie, zunächst die Erhängung der Männer mit anzusehen – besonders wenn sich ihr eigener Mann oder Bruder darunter befand. Dann befahl er ihr, vor uns, die an drei Seiten des Platzes angetreten waren, niederzuknien, während der Lagerfriseur ihr den

Weitere Kostenlose Bücher