Die Akte ODESSA: Thriller (German Edition)
zur Hinrichtung zusammentrieben. Sie waren mit Axtstielen ausgerüstet, und gelegentlich, wenn ein deutscher SS-Führer sie beobachtete, schlugen sie auf ihre jüdischen Brüder ein, um sie zu schärferem Arbeitstempo anzutreiben. Dennoch suchte ich am 1. April 1942 den Chef der jüdischen Kapos auf und meldete mich freiwillig. In den Augen meiner jüdischen Leidensgenossen war ich damit zum Ausgestoßenen geworden. Kapos konnte die Lagerleitung immer gebrauchen, denn trotz der reichlicheren Essensrationen, besseren Lebensbedingungen und der Befreiung von der Zwangsarbeit gaben sich nur sehr wenige dazu her …
Ich sollte an dieser Stelle die Methode schildern, nach der die Arbeitsunfähigen exekutiert wurden, denn auf diese Weise ließ Eduard Roschmann siebzig- bis achtzigtausend Juden in Riga ermorden. Wenn der Güterzug mit einem neuen Häftlingstransport, der gewöhnlich etwa fünftausend Menschen umfaßte, in den Bahnhof einlief, waren meistens schon annähernd eintausend Insassen während der Fahrt gestorben. Ein Zug bestand aus fünfzig Viehwaggons, und ganz selten gab es bei einem Transport nur ein paar hundert Tote.
Sobald die neuen Opfer auf dem Blechplatz angetreten waren, wurde wieder eine Auswahl für die Vernichtung getroffen, und zwar nicht nur aus den neu Angekommenen – alle mußten antreten, und jeden konnte es treffen. Das war der Zweck des Abzählens, morgens und abends. Bei den neuen Opfern wurden die schwachen, alten oder gebrechlichen, darunter die meisten Frauen und fast alle Kinder, als arbeitsunfähig abgesondert und der Rest gezählt. Waren es insgesamt zweitausend, wurden aus den Insassen des Ghettos zweitausend ausgesucht; wenn fünftausend hinzukamen, marschierten fünftausend zum Exekutionshügel. Auf diese Weise gab es keine Überbevölkerung. Ein Mann überlebte vielleicht sechs Monate Sklavenarbeit, selten länger, dann war seine Gesundheit ruiniert, und Roschmann tippte ihm mit seiner Reitpeitsche auf die Brust, und der Tag, an dem er seinen toten Leidensgenossen in das Massengrab folgte, war gekommen …
Zuerst marschierten die Opfer unter Bewachung zur Exekution in ein Gehölz in der Nähe der Stadt. Die Letten nannten das Gehölz den Bickernicker Forst, und die Deutschen tauften es in Hochwald um. Auf den Lichtungen zwischen den Kiefern hatten die Rigaer Juden riesige Gräber ausheben müssen, bevor sie starben. Nach getaner Arbeit wurden sie auf Befehl und unter Aufsicht Eduard Roschmanns von lettischen SS-Wachen niedergemäht. Die restlichen Rigaer Juden schütteten dann die zum Bedecken der Toten jeweils benötigte Menge Erde darüber; auf diese Weise kam eine weitere Schicht von Leichen auf die bereits darunter liegende, bis der Graben voll war. Der Vorgang wiederholte sich beim nächsten Graben. Vom Ghetto aus konnten wir jedesmal das Knattern der Maschinengewehrsalven hören, wenn eine neue »Sendung« liquidiert wurde. Wenn alles vorüber war, sahen wir Roschmann in seinem offenen Wagen den Hügel hinunterfahren und durch das Ghettotor kommen …
Nachdem ich Kapo geworden war, hörte jeder Kontakt zwischen mir und meinen Mithäftlingen auf. Es wäre sinnlos gewesen, ihnen zu erklären, was mich zu diesem Schritt bewogen hatte; sinnlos, darauf hinzuweisen, daß ein weiterer Kapo die Zahl der Opfer nicht um ein einziges erhöhte; sinnlos, ihnen erklären zu wollen, daß ein einziger überlebender Zeuge von entscheidender Bedeutung sein konnte – nicht zur Rettung der Juden, sondern um sie zu rächen. Dieses Argument hämmerte ich mir immer wieder selbst ein. Aber war das auch der wahre Grund? Oder hatte ich nur Angst vorm Sterben? Was auch immer es gewesen sein mochte – die Angst hörte bald auf, mein Verhalten zu bestimmen, denn im August jenes Jahres geschah etwas, was meine Seele abtötete. Der Kampf ums Überleben war von da an nur noch eine Angelegenheit meiner leiblichen Hülle …
Im Juli 1942 traf ein neuer großer Transport österreichischer Juden aus Wien ein. Sie mußten ausnahmslos zur »Sonderbehandlung« vorgemerkt worden sein; kein einziger von ihnen hat das Ghetto jemals betreten. Wir sahen sie nicht mal; sie wurden unmittelbar vom Bahnhof aus zum Hochwald in Marsch gesetzt und dort exekutiert. An jenem Abend kamen vier Lastwagen den Hügel hinunter. Ihre Ladungen bestand aus Bekleidungsstücken und persönlichen Habseligkeiten, die auf dem Blechplatz sortiert werden sollten. Ein Berg aus Schuhen, Socken, Unterhosen, Hosen, Kleidern, Jacken,
Weitere Kostenlose Bücher