Die Akte ODESSA: Thriller (German Edition)
SP-Standorteinheit der SS etablierte sich am 1. August 1941 und begann unverzüglich mit dem Vernichtungsprogramm, das die in »Kurland« umbenannten drei baltischen Staaten »judenfrei« machen sollte.
Dann wurde in Berlin entschieden, Riga zum Durchgangslager zu machen, durch das die deutschen und österreichischen Juden auf ihrem Weg in den Tod geschleust wurden. 1938 lebten in Deutschland 320 000 und in Österreich 180 000 Juden, insgesamt also eine halbe Million. Bis zum Juli 1941 waren sie bereits zu Zehntausenden interniert, in innerdeutschen und österreichischen Konzentrationslagern – Sachsenhausen, Mauthausen, Ravensbrück, Dachau, Buchenwald, Bergen-Belsen und Theresienstadt in Böhmen. Aber die Lager waren überfüllt, und die weiten Gebiete des eroberten Ostens schienen den SS-Mördern der geeignete Ort zur Beseitigung der restlichen Juden zu sein. Mit dem Ausbau beziehungsweise der Errichtung der fünf Vernichtungslager Auschwitz, Treblinka, Belzec, Sobibor und Chelmno wurde bald begonnen; bis zu ihrer Fertigstellung mußte ein Ort gefunden werden, wo in der Zwischenzeit so viele Juden wie möglich beseitigt und die Überlebenden »verwahrt« werden konnten bis zur »Endlösung«. Dazu war Riga ausersehen.
Zwischen dem 1. August 1941 und dem 14. Oktober 1944 wurden allein 200 000 deutsche und österreichische Juden nach Riga abtransportiert. 80 000 fanden dort den Tod, und 120 000 wurden in die bereits erwähnten Vernichtungslager im südlichen Polen weitertransportiert. Von den vierhundert Häftlingen, die diese Lager lebend verließen, starb die Hälfte in Stutthof oder auf dem Todesmarsch nach Magdeburg. Taubers Transport war der erste, der das Reichsgebiet verließ; er traf am 18. August 1941 um 15 Uhr 45 in Riga ein.
Das Ghetto in Riga bildete einen in sich abgeschlossenen Teil der Stadt; vorher war es das Wohnviertel der Rigaer Juden gewesen. Als ich dorthin kam, lebten nur noch wenige Hundert. In weniger als drei Wochen waren unter Leitung Roschmanns und seines Stellvertreters Krause weisungsgemäß die meisten von ihnen ermordet worden.
Das Ghetto lag am Nordrand der Stadt und grenzte im Norden an das offene Land. Eine Mauer bildete seine Südgrenze, die anderen drei Grenzen waren durch mehrere Stacheldrahtzäune abgeriegelt. Es gab nur ein einziges Tor in der Nordgrenze zum Betreten oder Verlassen des Ghettos. Es wurde von zwei Wachtürmen mit lettischer SS flankiert. Von hier aus verlief die Mase Kalnu Iela – die »Straße zum Kleinen Hügel« – in gerader südlicher Richtung mitten durch das Ghetto zu dessen Südgrenze. Rechts neben der Straße (von Süden aus nach Norden, d. h. zum Haupttor gesehen) war der Blechplatz, wo die Auswahl für die Exekutionen vorgenommen wurden. Auch die Vollzähligkeitsappelle, bei denen die Zwangsarbeitskommandos zusammengestellt und die Auspeitschungen und Erhängungen vollzogen wurden, fanden dort statt. Der Galgen mit seinen acht Stahlhaken und den im Wind schwingenden Schlingen stand mitten auf dem Platz. Abend für Abend wurden mindestens sechs Unglückliche gehenkt, und häufig mußte die Last aller acht Haken mehrfach erneuert werden, bevor Roschmann mit seinem Tagewerk zufrieden war.
Die Gesamtausdehnung des Ghettos betrug annähernd fünf Quadratkilometer; in normalen Zeiten lebten zwölf- bis fünfzehntausend Menschen in diesem Stadtviertel. Vor unserer Ankunft waren von den Rigaer Juden – vielmehr von den zweitausend Überlebenden und Zurückgebliebenen – umfangreiche Abbrucharbeiten verrichtet worden, so daß die fünftausend Männer, Frauen und Kinder unseres Transports ein geräumiges Gebiet vorfanden. Aber nach uns trafen Tag für Tag weitere Transporte ein, bis die Bevölkerung unseres Teils des Ghettos auf dreißig- bis vierzigtausend Einwohner anstieg. Sobald daher ein neuer Transport gemeldet war, exekutierte die SS jeweils ebenso viele Bewohner, wie sie Neuankömmlinge erwartete – auf diese Weise schaffte die SS Platz. Sonst wäre wegen der Überbelegung des Ghettos die Gesundheit der noch Arbeitsfähigen unter uns bedroht worden – und das ließ Roschmann nicht zu.
An jenem ersten Abend richteten wir uns daher in den besten Häusern ein; jeder suchte sich ein eigenes Zimmer aus, schlief in einem richtigen Bett und benutzte Vorhänge und Mäntel zum Zudecken. Als mein Zimmernachbar seinen Durst mit Leitungswasser gestillt hatte, meinte er, vielleicht würde es am Ende doch nicht gar so
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