Die Akte ODESSA: Thriller (German Edition)
ohne Schwierigkeiten. Es lag abseits der Hauptstraße in einer stillen Villengegend des Londoner Vororts Wimbledon. Lord Russell war ein Mann von Ende Sechzig, der zum wollenen Cardigan einen Querbinder trug; er öffnete auf Millers Läuten selbst.
»Ich komme aus Bonn«, erklärte Miller dem englischen Aristokraten, »wo ich gestern mit Mister Anthony Cadbury zu Mittag gegessen habe. Er riet mir, Sie aufzusuchen, und gab mir ein Empfehlungsschreiben an Sie mit. Ich wäre glücklich, Sir, wenn ich Sie sprechen könnte.«
Lord Russell sah ihn ein wenig ratlos an.
»Cadbury? Anthony Cadbury? Ich kann mich nicht entsinnen …«
»Ein britischer Zeitungskorrespondent«, sagte Miller. »Er war gleich nach dem Kriege in Deutschland und berichtete über die Kriegsverbrecherprozesse, bei denen Sie Stellvertretender Ankläger waren. Josef Kramer und die anderen SS-Dienstgrade aus Bergen-Belsen. Sie erinnern sich sicher an diese Prozesse …«
»Aber selbstverständlich. Ja, Cadbury, ja, Journalist. Jetzt entsinne ich mich. Habe ihn seit Jahren nicht gesehen. Stehen Sie doch nicht so in der Kälte herum. Kommen Sie herein, kommen Sie.«
Er drehte sich um, ohne eine Antwort abzuwarten, und ging in die Halle zurück. Miller folgte ihm und schloß die Tür. Es ging ein eisiger Wind an diesem ersten Tag des Jahres 1964. Auf Lord Russells Aufforderung hin hängte er seinen Mantel in der Halle an einen Garderobenhaken. Dann folgte er dem Lord in den hinteren Teil des Hauses ins Wohnzimmer, wo ein Kaminfeuer Wärme und Behaglichkeit verbreitete.
Miller überreichte dem Hausherrn das Einführungsschreiben von Cadbury. Lord Russell las es rasch und hob die Brauen.
»Hm. Ihnen helfen, einen Nazi aufzuspüren? Ist es das, was Sie von mir wollen?« Er schaute Miller unter seinen buschigen Augenbrauen hervor prüfend an. Bevor der Deutsche ihm antworten konnte, fuhr Lord Russell fort:
»Setzen Sie sich erst mal, setzen Sie sich.«
Sie setzten sich in die beiden Blümchensessel vorm Kamin.
»Wie kommt es, daß ein junger deutscher Reporter Nazis jagt?« fragte Lord Russell unumwunden. Miller war auf seine direkte Art nicht gefaßt gewesen.
»Das erzähle ich Ihnen am besten von Anfang an«, sagte Miller.
»Das sollten Sie wohl.« Lord Russell beugte sich vor und klopfte seine Pfeife am Kamingitter aus. Während Miller berichtete, stopfte er sie, steckte sie an, und als Miller fertig war, schmauchte er schon wieder behaglich.
»Ich hoffe, mein Englisch ist nicht allzu schlecht«, bemerkte er schließlich, weil der pensionierte Ankläger keine Reaktion zeigte.
Lord Russell schien aus seiner Grübelei aufzutauchen.
»Oh, ja, ja. Besser jedenfalls als mein Deutsch nach all diesen Jahren. Man vergißt, wissen Sie.«
»Diese Roschmann-Geschichte –« begann Miller.
»Ja, interessant, sehr interessant. Und Sie wollen also versuchen, den Mann aufzuspüren. Warum?«
Die Frage hatte er ganz unvermittelt abgeschossen, aber Miller erwiderte ungerührt seinen forschenden Blick.
»Ich habe meine Gründe«, sagte er sehr förmlich. »Ich bin der Meinung, daß der Mann ausfindig gemacht und vor Gericht gestellt werden muß.«
»Hm. Der Meinung sind wir wohl alle. Die Frage ist nur, ob es jemals dazu kommen wird.«
Miller bot ihm Paroli: »Wenn es mir gelingt, ihn ausfindig zu machen, ganz gewiß. Darauf gebe ich Ihnen mein Wort.«
Der britische Aristokrat schien unbeeindruckt. Kleine Rauchzeichen stiegen aus seiner Pfeife und schwebten in gleichmäßigem Abstand zur Decke. Die Gesprächspause hielt an.
»Erinnern Sie sich denn an ihn, Sir?«
Lord Russell fuhr zusammen.
»Ob ich mich an ihn erinnere? Oh, ja, ich entsinne mich. Zumindest ist mir der Name erinnerlich geblieben. Ich wünschte, mir fiele das dazugehörige Gesicht wieder ein. Mit den Jahren läßt das Gedächtnis eines alten Mannes nach, wissen Sie. Und es gab damals so viele von Roschmanns Sorte.
»Die britische Militärpolizei nahm ihn am 20. Dezember 1947 in Graz fest«, sagte Miller.
Er zog die Photokopien der beiden Photos von Roschmann aus der Brusttasche und reichte sie Lord Russell. Der britische Aristokrat betrachtete die Aufnahmen, die Roschmann im Profil und en face zeigten. Dann stand er auf und ging nachdenklich im Wohnzimmer auf und ab.
»Ja«, sagte er schließlich. »Jetzt erkenne ich die Photos wieder. Ja, die Unterlagen sind mir wenige Tage später von der Grazer Feldpolizei nach Hannover übersandt worden. Das wird auch die Quelle gewesen
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