Die Akte ODESSA: Thriller (German Edition)
sein, auf der Cadburys Bericht basiert. Unsere Dienststelle in Hannover.«
Er schwieg einen Augenblick lang, machte kehrt und sah Miller an.
»Sie sagen, Ihr Tagebuchschreiber Tauber hat ihn zuletzt am 3. April 1945 gesehen, als er zusammen mit anderen in einem Wagen in Richtung Magdeburg fuhr?«
»Ja, das steht in Taubers Tagebuch.«
»Hmmm. Zweieinhalb Jahre bevor wir ihn faßten. Und wissen Sie, wo er vorher gewesen ist?‹.
»Nein«, sagte Miller.
»In einem britischen Kriegsgefangenenlager. Unverfroren. Also gut, junger Mann, ich will ergänzen, was mir an Einzelheiten bekannt ist …«
Der Wagen, in dem Roschmann und seine SS-Kumpane flohen, passierte Magdeburg; dann ging die Flucht weiter nach Süden in Richtung Bayern und Österreich. Sie kamen noch vor Ende April bis nach München. Da trennten sie sich. Roschmann trug zu diesem Zeitpunkt die Uniform eines Unteroffiziers der Wehrmacht; sein Soldbuch war auf seinen Namen ausgestellt, wies ihn jedoch als Wehrmachtsangehörigen aus.
Südlich von München hatten die Amerikaner starke Truppenverbände massiert, und das nicht wegen möglicher Unruhen unter der Zivilbevölkerung – die war nur in verwaltungstechnischer Hinsicht ein Problem –, sondern wegen eines Gerüchts. Dieses Gerücht besagte, die Nazihierarchie beabsichtige, sich in Hitlers zur »Alpenfestung« ausgebauten Berghof zurückzuziehen, um dort bis zum letzten Mann Widerstand zu leisten. Die Hunderttausende unbewaffnet umherirrenden deutschen Soldaten wurden von Pattons in Bayern operierenden Kampfverbänden nur wenig beachtet. Roschmann, der nachts marschierte und sich bei Tage in Scheunen und Holzfällerhütten versteckte, überschritt die seit 1938 ohnehin nicht mehr bestehende österreichische Grenze und schlug sich durch nach Graz, seiner Heimatstadt. In und um Graz kannte er Leute, die ihn verbergen würden. Er umging Wien, und am 6. Mai, schon fast am Ziel, stellte ihn eine britische Patrouille. Er schlug sich in die Büsche an der Straße, und in dem Kugelhagel, der das Unterholz durchsiebte, erhielt er einen Lungendurchschuß. Die Engländer suchten ihn vergeblich. Sie ließen ihn verwundet im Unterholz zurück. Als sie weg waren, schleppte er sich zu einem etwa einen Kilometer entfernten Bauernhof.
Er blieb bei Bewußtsein und nannte dem Bauern den Namen eines ihm bekannten Arztes in Graz. Trotz des Ausgehverbots radelte der Mann mitten in der Nacht los, um den Arzt zu holen. Drei Monate lang wurde Roschmann von seinen Freunden gepflegt – zunächst auf dem Bauernhof, später in einem Haus in Graz. Als er soweit wiederhergestellt war, daß er aufstehen und umhergehen konnte, war der Krieg seit drei Monaten beendet und Österreich von den vier Siegermächten besetzt. Graz lag im Zentrum der britischen Zone.
Alle deutschen Soldaten mußten zwei Jahre in Kriegsgefangenschaft. Roschmann, für den das Kriegsgefangenenlager noch der sicherste Aufenthaltsort war, stellte sich freiwillig. Zwei Jahre lang, vom August 1945 bis zum August 1947, während die Jagd nach den SS-Verbrechern in vollem Gange war, saß er unerkannt und unangefochten im Kriegsgefangenenlager. Er hatte sich nämlich nicht unter seinem eigenen Namen in Gefangenschaft begeben, sondern unter dem eines Freundes, der in Nordafrika gefallen war.
In jener Zeit gab es so viele deutsche Soldaten ohne Ausweispapiere, daß die Alliierten den von Roschmann angegebenen Namen als echt akzeptierten. Sie hatten weder die Zeit noch die technischen Möglichkeiten, ehemalige Unteroffiziere der Wehrmacht eingehender zu überprüfen. Im Sommer 1947 wurde Roschmann entlassen. Er glaubte, er käme ohne den Schutz des Gefangenenlagers aus. Er hatte sich getäuscht.
Ein aus Wien gebürtiger Überlebender des Rigaer Ghettos hatte sich geschworen, an Roschmann Rache zu nehmen. Dieser Mann patrouillierte in den Straßen von Graz, Roschmanns Vaterstadt. Er wußte, Roschmanns Frau Hella und seine Eltern lebten hier, und er wußte auch genau in welcher Straße. Der alte Mann streifte unablässig zwischen dem Haus der Eltern und Roschmanns eigenem hin und her, wo seine Frau wohnte. Er wollte Roschmann festnehmen lassen, sobald er auftauchte.
Nach seiner Entlassung aus dem Kriegsgefangenenlager hatte Roschmann es vorgezogen, auf dem Lande zu bleiben, wo er bei den Bauern auf dem Feld arbeitete. Am 17. Dezember ging er nach Graz, um mit seiner Familie Weihnachten zu feiern. Der alte Mann wartete immer noch auf ihn. Er erkannte die
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