Die Akte ODESSA: Thriller (German Edition)
schlanke, hochaufgeschossene Gestalt mit dem blonden Haar und den kalten blauen Augen, die auf das Haus seiner Frau zuging. Der alte Mann versteckte sich hinter einer Litfaßsäule und beobachtete. Roschmann sah sich ein paarmal prüfend um, dann klopfte er an die Tür und wurde hereingelassen.
Innerhalb einer Stunde erschienen zwei Sergeants der britischen Feldpolizei an Roschmanns Haustür. Begleitet wurden sie von dem ehemaligen Insassen des Rigaer Ghettos, der so lange auf Roschmann gewartet hatte. Nach kurzer Suche wurde er unter dem Ehebett entdeckt. Wäre er kaltblütig geblieben, hätte er sich auf eine Verwechslung hinausgeredet – vielleicht wäre er damit durchgekommen. Die beiden Sergeants waren dem Hinweis des alten Mannes nicht ohne skeptischen Vorbehalt nachgekommen; wahrscheinlich hätte es gar nicht viel bedurft, sie glauben zu machen, er habe sich geirrt. Aber Roschmanns Beine schauten unter dem Bett hervor, und das zerstreute ihre Zweifel. Er wurde abgeführt und vom Major der Feldpolizei Hardy verhört. Der ließ ihn in eine Zelle sperren und forderte umgehend über das britische Hauptquartier in Deutschland vom amerikanischen Document Center in Berlin Photokopien von Roschmanns Personalakte an. Die Bestätigung traf nach einigen Tagen ein, und die Ermittlungen liefen an. Das weckte das Interesse des amerikanischen Militärgerichts in Dachau, das um die zeitweilige Überführung Roschmanns nach München bat. Er sollte in Dachau als Zeuge vorgeführt werden. Dort hatte man bereits einige SS-Männer, die in Riga waren und die in den Konzentrationslagern eine kriminelle Rolle gespielt hatten, und man wollte ihnen den Prozeß machen. Die Engländer erklärten sich zur Überstellung Roschmanns bereit.
Am 8. Januar 1948 bestieg Roschmann unter Bewachung von je einem Sergeant der Militär- und der Feldpolizei in Graz den Zug nach München.
Lord Russell trat an den Kamin und klopfte seine Pfeife aus.
»Und was geschah dann?« fragte Miller.
»Er flüchtete.«
»Wie bitte?«
»Er flüchtete. Er behauptete, er habe Durchfall von der Gefängniskost und sprang aus dem Toilettenfenster des fahrenden Zuges. Als seine beiden Bewacher die Toilettentür endlich aufgebrochen hatten, war er längst im Schneetreiben entkommen. Selbstverständlich wurde sofort eine Großfahndung eingeleitet. Inzwischen aber war es ihm gelungen, mit einer der Organisationen Verbindung aufzunehmen, die den Ex-Nazis zur Flucht verhalfen. Sechzehn Monate später, im Mai 1949, wurde Ihre Bundesrepublik gegründet, und wir übergaben unsere sämtlichen Unterlagen den Bonner Behörden.«
Miller legte den Schreibblock mit seinen Notizen aus der Hand.
»An wen wende ich mich jetzt am besten?« fragte er.
»Nun, an Ihre eigenen Leute, würde ich meinen«, erklärte Lord Russel. »Roschmanns Lebenslauf ist Ihnen jetzt in allen Einzelheiten von seiner Geburt bis zum 8. Januar 1948 bekannt. Alles Weitere ist Sache der deutschen Behörden.«
»Welcher Behörden?« fragte Miller, in der vagen Hoffnung auf eine Auskunft, die anders lautete als erwartet.
»Am besten wenden Sie sich an die zuständige Generalstaatsanwaltschaft«, sagte Lord Russell.
»Da bin ich schon gewesen, nämlich in Hamburg.«
»Na, und was haben Sie erreicht?«
»Eigentlich nichts.«
Lord Russell grinste. »Das überrascht mich nicht. Haben Sie Ihr Heil mal in Ludwigsburg versucht?«
»Ja. Dort war man im Unterschied zu Hamburg zwar sehr freundlich, konnte mir ab aus bürokratischen Gründen auch nicht weiterhelfen«, sagte Miller.
»Nun, damit sind die Möglichkeiten zur Einschaltung offizieller Ermittlungsorgane erschöpft. Jetzt bleibt nur noch ein einziger Mann. Haben Sie jemals von Simon Wiesenthal gehört?«
»Wiesenthal? Ja, der Name kommt mir irgendwie bekannt vor, aber ich kann ihn nicht unterbringen.«
»Er lebt in Wien. Stammt ursprünglich aus Galizien. Verbrachte vier Jahre in zwölf verschiedenen Konzentrationslagern. Beschloß, den Rest seines Lebens der Jagd auf Nazis zu widmen. Natürlich nicht etwa in dem Sinn, daß er sich persönlich an ihrer Verfolgung beteiligt. Er wertet lediglich alle Informationen aus, die er über sie erhalten kann, und sobald er einen Naziverbrecher entdeckt zu haben glaubt – meist, aber durchaus nicht immer, leben die Betreffenden unter falschem Namen –, verständigt er die Polizei. Wenn sie nichts unternimmt, mobilisiert er die öffentliche Meinung, und das ist dann sehr peinlich für Justiz und
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