Die Akte ODESSA: Thriller (German Edition)
Wiesenthals Büro.
»Sie wollten mich noch über die ODESSA aufklären«, sagte er. »Übrigens ist mir über Nacht etwas eingefallen, was ich Ihnen gestern zu erzählen vergaß.«
Er schilderte den Vorfall mit Dr. Schmidt, der ihn im Hotel Dreesen angesprochen und davor gewarnt hatte, seine Roschmann-Nachforschungen fortzusetzen.
Wiesenthal schob die Unterlippe vor und nickte.
»Sie können sich auf einiges gefaßt machen«, sagte er. »Es ist höchst ungewöhnlich, daß die ODESSA-Leute sich zu einem solchen Schritt entschließen, um einen Reporter zu warnen, und noch dazu zu einem so frühen Zeitpunkt. Ich frage mich, was für eine Aufgabe Roschmann übernommen hat, die ihn so wichtig macht.«
Dann erzählte Wiesenthal Miller zwei Stunden von der ODESSA, von ihren Anfängen als Organisation, die gesuchten SS-Verbrechern zur Flucht ins Ausland verhalf, bis zu ihrer Entwicklung zu einer allumfassenden Bruderschaft all derer, die einst die schwarzsilbernen Kragenspiegel getragen hatten. Und über deren Freunde und Helfershelfer.
1945 stießen die Alliierten auf ihrem stürmischen Vormarsch in das Reichsgebiet auf die Konzentrationslager und wollten begreiflicherweise von den Deutschen wissen, wer diese Greueltaten verübt hatte. Die Antwort lautete stets: »Die SS«, aber von der SS war nicht viel zu entdecken. Wo war sie geblieben? Ihre Führer waren entweder in Deutschland oder in Österreich in den Untergrund gegangen, oder sie waren nach Südamerika entkommen. Weder in dem einen noch in dem anderen Fall handelte es sich um eine improvisierte Flucht. Erst zu einem sehr viel späteren Zeitpunkt begriffen die Alliierten, daß jeder dieser Männer sein Verschwinden sorgfältig vorbereitet hatte.
Es wirft ein bezeichnendes Licht auf den sogenannten Patriotismus der SS-Führer, daß sie ausnahmslos alle ihre eigene Haut retten wollten, von Heinrich Himmler angefangen – auf Kosten des deutschen Volkes, das ihretwegen einen hohen Blutzoll entrichten mußte. Bereits im November 1944 versuchte Heinrich Himmler über die Dienststelle Graf Bernadottes vom Schwedischen Roten Kreuz für sich selbst freies Geleit auszuhandeln, aber die Alliierten weigerten sich, auf ein derartiges Ansinnen einzugehen. Während die Nazis und die SS-Führung das deutsche Volk mit allen Mitteln zum Durchhalten zwangen – unter ständigem Hinweis auf die neuen »Wunderwaffen«, deren unmittelbar bevorstehender Einsatz die große Wende herbeiführen sollte –, bereiteten sie selbst längst ihre Abreise in ein komfortables Exil auf einem anderen Kontinent vor. Sie wußten nur allzugut, daß die Wunderwaffen ein Mythos waren und die totale Verwüstung des Reichs unausweichlich. Und für Hitler war die Vernichtung der ganzen deutschen Nation beschlossene Sache.
An der Ostfront wurde die Wehrmacht zur Fortsetzung des Kampfes gegen die Russen gezwungen; dieser Kampf brachte nur noch unerhörte Verluste und keine Siege mehr. Er zögerte das Ende nur noch hinaus. Während dieser Zeit schloß die SS-Führung ihre Fluchtvorbereitungen ab. Hinter der Armee stand die SS und erschoß oder erhängte viele Soldaten, die es gewagt hatten, einen Schritt zurückzuweichen. Vorher hatten die Soldaten dem übermächtigen Druck des Gegners länger standgehalten, als unter dem gegebenen Kräfteverhältnis von irgendeiner Armee der Welt hätte erwartet werden können. Viele Offiziere und Soldaten der Wehrmacht endeten am Strick der SS-Henker an den Chausseebäumen.
Unmittelbar vor dem endgültigen Zusammenbruch, den sie auf diese Weise um einige Monate hinausgeschoben hatten, verschwanden die SS-Führer von der Bildfläche. Überall in dem noch nicht vom Feind besetzten restlichen Reichsgebiet verließen sie ihren Posten, zogen sich Zivilkleider an, steckten ihre hervorragend gefälschten Papiere ein und tauchten in den endlosen Flüchtlingskolonnen unter, die im Mai 1945 in ganz Deutschland umherirrten. Sie überließen es den Greisen des Volkssturms, die Engländer und Amerikaner an den Toren der Konzentrationslager zu empfangen. Die ausgepumpten Soldaten der Wehrmacht ließen sie in die Kriegsgefangenenlager marschieren, und den Frauen und Kindern blieb es selbst überlassen, unter alliierter Herrschaft den strengen Winter 1945/46 zu überleben oder zu sterben.
Die SS-Führer, die allzu bekannt waren, um längere Zeit unerkannt zu bleiben, flohen nach Südamerika. Hier trat die ODESSA in Aktion. Sie war unmittelbar vor Kriegsende gegründet worden und
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