Die Akte ODESSA: Thriller (German Edition)
und vor Gericht zu stellen, zu durchkreuzen oder doch zu behindern. Erreichen konnte sie das nur dank ihrer beispiellosen Unbarmherzigkeit, mit der sie gegebenenfalls auch gegen Leute aus den eigenen Reihen vorgeht, falls jemand Neigung verrät, den Behörden ein umfassendes Geständnis abzulegen; dank der Fehler, die den Alliierten zwischen 1945 und 1949 unterliefen; dank des Kalten Krieges und dank der Feigheit, die so vielen Deutschen eigen ist, sobald sie sich einem moralischen Problem gegenübersehen – und die in so krassem Gegensatz zu der Tapferkeit steht, mit der sie militärische Probleme oder technische Fragen wie den Wiederaufbau Deutschlands nach dem Kriege angepackt haben.
Als Simon Wiesenthal fertig war, legte Miller den Drehbleistift aus der Hand und lehnte sich im Sessel zurück. Er hatte sich Notizen gemacht.
»Davon hatte ich nicht die blasseste Ahnung«, sagte er.
»Die haben die wenigsten Deutschen«, sagte Wiesenthal. »Tatsächlich weiß kaum jemand in Deutschland Genaueres über die ODESSA. Die Bezeichnung wird in Deutschland so gut wie gar nicht benutzt, und so wie gewisse Figuren der amerikanischen Unterwelt die Existenz der Mafia rundweg leugnen, wird jeder ehemalige SS-Angehörige die Existenz der ODESSA hartnäckig abstreiten. Heutzutage wird die Bezeichnung ODESSA auch viel seltener gebraucht als früher. Heute heißt sie ganz allgemein ›Kameradenwerk‹ – so wie die Mafia in Amerika ›Cosa Nostra‹ genannt wird. Aber was ist schon ein Name? Die ODESSA existiert noch immer, und sie wird so lange existieren, wie es Verbrecher gibt, die sie schützen kann.«
»Und Sie glauben, das sind die Männer, mit denen ich es zu tun kriege?« fragte Miller.
»Da bin ich ganz sicher. Die Warnung, die man Ihnen in Bad Godesberg zukommen ließ, kann nur aus dieser Ecke stammen. Seien Sie vorsichtig, diese Männer sind gefährlich.«
Miller war mit den Gedanken ganz woanders.
»Sie sagten, daß Roschmann einen neuen Paß brauchte, als er 1955 untertauchte?«
»Allerdings.«
»Warum gerade einen Paß?«
Simon Wiesenthal setzte sich in seinem Sessel zurecht und nickte.
»Ich verstehe, daß Sie das erstaunt. Lassen Sie mich Ihnen das kurz erklären. Nach dem Krieg gab es in Deutschland und auch hier in Österreich Zehntausende von Menschen, die keine Papiere mehr besaßen. Manchen waren sie tatsächlich abhanden gekommen, andere wieder hatten sie aus guten Gründen weggeworfen.
Um neue Papiere zu erhalten, mußte man in normalen Zeiten eine Geburtsurkunde vorweisen. Aber Millionen hatten die von den Russen besetzten, vormals deutschen Gebiete fluchtartig verlassen müssen. Wer sollte nachprüfen, ob ein Mann tatsächlich in einem kleinen Dorf in Ostpreußen, das jetzt Hunderte von Kilometern hinter dem Eisernen Vorhang lag, geboren war oder nicht? Bei Einheimischen in den alliierten Zonen waren die Häuser und Wohnungen, in denen die Leute ihre Papiere verwahrt hatten, ausgebombt oder zusammengeschossen worden.
Der Vorgang wurde daher weitgehend vereinfacht. Alles, was man brauchte, um einen neuen Personalausweis zu erhalten, waren zwei Zeugen, die bestätigten, daß man tatsächlich derjenige war, der man zu sein behauptete. Auch die Kriegsgefangenen hatten häufig keine Personalpapiere. Bei ihrer Entlassung aus dem Lager unterzeichneten die Beauftragten der amerikanischen und englischen Militärbehörden einen Entlassungsschein, der etwa besagte, daß dem Unteroffizier Soundso hierdurch die Entlassung aus dem alliierten Kriegsgefangenenlager bescheinigt werde. Diesen Zettel legte der Heimkehrer dann den zivilen Behörden vor, die ihm einen Personalausweis auf den gleichen Namen ausstellten. Aber häufig hatte der Mann den Alliierten gegenüber einen falschen Namen angegeben. Niemand prüfte das nach. So kam man zu einer neuen Identität.
Das war also in der ersten Nachkriegszeit kein Problem, und damals besorgte sich die Mehrzahl der SS-Verbrecher eine neue Identität. Aber was macht ein Mann der im Jahre 1955 hochgeht, wie das Roschmann passierte? Zur Behörde gehen und sagen, er habe seine Papiere im Krieg verloren, kann er nicht. Man würde ihn fragen, wie er in den letzten zehn Jahren ohne Ausweis zurechtgekommen sei. Er braucht also einen Paß.«
»Das leuchtet mir soweit ein«, sagte Miller. »Aber warum einen Paß? Warum nicht einen Führerschein oder einen Personalausweis?«
»Weil sich die deutschen Behörden schon sehr bald nach der Gründung der Bundesrepublik darüber im
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