Die Akte ODESSA: Thriller (German Edition)
daß bei der Ermittlung von Naziverbrechen die Hamburger Justiz nicht zu den besonders aktiven in der Bundesrepublik zählt. Es gibt dort zwar einige Anwälte, die sehr ordentlich arbeiten, aber interessierte Kreise haben schon wiederholt versucht, ihnen Schwierigkeiten zu machen.«
Die hübsche Sekretärin steckte ihren Kopf zur Tür herein.
»Tee oder Kaffee?« fragte sie.
Nach der Mittagspause kehrte Miller ins Dokumentationszentrum zurück. Wiesenthal hatte eine Anzahl Papiere vor sich ausgebreitet, vorwiegend Auszüge aus seiner eigenen Roschmann-Akte. Miller setzte sich auf den Besucherstuhl vor dem Tisch, holte seinen Notizblock heraus und wartete. Simon Wiesenthal rekonstruierte den weiteren Verlauf der Roschmann-Story ab 8. Januar 1948.
Die britischen und amerikanischen Militärbehörden waren übereingekommen, Roschmann nach Beendigung seiner Zeugenaussagen in Dachau in die britische Besatzungszone Deutschlands – vermutlich nach Hannover – zu überbringen. Dort sollte er bis zu seinem eigenen Prozeß in Gewahrsam bleiben; man hätte mit der Todesstrafe rechnen können. Aber Roschmann hatte schon im Grazer Gefängnis Fluchtpläne geschmiedet.
Er hatte Verbindung mit einer in Österreich tätigen Nazi-Fluchthilfe-Organisation aufnehmen können, die sich »Sechsgestirn« nannte. Der Name hatte mit dem Davidstern nichts zu tun; er bezog sich nur auf die Tatsache, daß diese Naziorganisation Anlaufstellen in sechs größeren österreichischen Bundesländern unterhielt.
Am 8. Januar wurde Roschmann um 6 Uhr morgens geweckt und zum Grazer Bahnhof gebracht, wo der Zug bereits wartete. Im Abteil entwickelte sich zwischen den beiden Sergeants – einer Militärpolizei, der andere Feldsicherheitspolizei – eine Diskussion darüber, ob sie ihrem Gefangenen die Handschellen für die Dauer der Eisenbahnfahrt abnehmen sollten oder nicht. Roschmanns Behauptung, daß er von der Gefängniskost Durchfall bekommen habe und dringend die Toilette aufsuchen müsse, entschied den Ausgang der Diskussion. Einer der beiden Sergeants eskortierte ihn zum Klosett, löste seine Handschellen und bezog vor der Klosettür Posten. Während der Zug durch die verschneite Landschaft keuchte, verlangte Roschmann noch dreimal, zur Toilette gebracht zu werden. Wahrscheinlich benutzte er die dort verbrachte Zeit, um das Toilettenfenster aufzustemmen, damit es sich leicht hinauf- und hinunterschieben ließ.
Roschmann war sich darüber im klaren, daß er vor Salzburg aus dem Zug springen mußte, denn da übernahmen ihn die Amerikaner und transportierten ihn mit dem Wagen nach Dachau ins Gefängnis. Aber der Zug durchfuhr einen Bahnhof nach dem anderen, und seine Geschwindigkeit war noch immer zu hoch. Er hielt in Hallein, und einer der Sergeants stieg aus, um auf dem Bahnsteig etwas Trinkbares zu kaufen. Roschmann wollte wieder zur Toilette. Der gemütlichere der beiden Sergeants eskortierte ihn; er ermahnte ihn noch, die Spülung erst zu betätigen, wenn der Zug weiterfuhr. Bevor er jedoch volles Tempo gewonnen hatte, zwängte sich Roschmann durch das Toilettenfenster und sprang ab. Es dauerte zehn Minuten, bis der Sergeant die Toilettentür aufgebrochen hatte, und da war der Zug schon auf der abschüssigen Strecke vor Salzburg.
Nachforschungen der Polizei ergaben, daß Roschmann im Schneetreiben bis zu einem Bauernhof kam, wo er Unterschlupf fand. Am nächsten Tag überschritt er die Grenze zwischen Oberösterreich und dem Land Salzburg und nahm dort Verbindung mit Angehörigen des »Sechsgestirns« auf. Sie brachten ihn als einfachen Arbeiter in einer Ziegelei unter und kontaktierten die ODESSA. Die wiederum sollte Roschmann zur Flucht über die italienische Grenze verhelfen. Zu jenem Zeitpunkt bestanden enge Kontakte zwischen der ODESSA und den Rekrutierungsorganen der französischen Fremdenlegion, bei der viele ehemalige SS-Angehörige Zuflucht fanden. Vier Tage nachdem die Verbindung aufgenommen worden war, wartete ein Wagen mit französischem Nummernschild am Ortsausgang des Fleckens Ostermiething, um Roschmann und fünf andere flüchtige Nazis abzuholen. Der Fahrer, ein Fremdenlegionär, hatte hervorragend gefälschte Papiere, mit denen er die sechs SS-Männer unkontrolliert und unbehelligt über die italienische Grenze nach Meran brachte. Dort bekam er von dem dortigen Odessa-Beauftragten das vereinbarte Honorar für die Fluchthilfe in bar – eine schöne Summe.
Von Meran aus brachte man Roschmann in ein
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