Die Akte ODESSA: Thriller (German Edition)
hatte die Aufgabe, SS-Angehörige aus Deutschland herauszuschmuggeln und in Sicherheit zu bringen. Mit Juan Perons Argentinien bestanden bereits engste freundschaftliche Bande; der Diktator hatte siebentausend argentinische Identitätsausweise blanko für sie ausstellen lassen. Die Flüchtlinge brauchten sie nur noch um einen falschen Namen mit eigenem Photo zu ergänzen. Den Rest besorgte der Mann der ODESSA. Die Flüchtlinge blieben in Argentinien oder reisten in andere südamerikanische Länder oder auch in den Mittleren Osten.
Zu Tausenden wurden SS-Leute durch Österreich und die italienische Provinz Südtirol geschleust. Von dort aus ließen sie sich auf ihrem Weg nach Genua, Rimini oder Rom von Unterschlupf zu Unterschlupf weiterreichen. Eine Anzahl privater Organisationen, von denen einige vorgaben, sich karitativer Arbeit zu widmen, kam aus Gründen, die nur ihnen selbst bekannt sein dürften, zu der Überzeugung, daß die Alliierten mit den SS-Flüchtlingen allzu unnachsichtig ins Gericht gingen.
Zu den prominentesten Fluchthelfern von Rom, die Tausende von flüchtigen SS-Führern in Sicherheit schmuggelten, zählte Alois Hudal, der deutsche Bischof in Rom. Das Hauptversteck war das riesige Franziskanerkloster in Rom; dort wurden sie beherbergt und verpflegt, bis falsche Papiere und eine Schiffspassage nach Südamerika besorgt waren. In einigen Fällen reisten die SS-Angehörigen mit Rot-Kreuz-Reisepapieren, die durch die Vermittlung kirchlicher Stellen ausgestellt worden waren; oft bezahlten Wohlfahrtsorganisationen, wie zum Beispiel die Caritas, die entsprechend getäuscht wurden, die Kosten der Überfahrt.
Dies war die erste Aufgabe der ODESSA und sie löste sie weitgehend erfolgreich. Wie viele tausend SS-Männer auf diese Weise den Alliierten und dem Henker entkommen sind, wird nie zu erfahren sein. Jedenfalls waren es mehr als 80 Prozent derjenigen, die die Todesstrafe verdient hatten. Nachdem sich die ODESSA mit den Reinerträgen aus den Massenmorden von ihren Safes in Schweizer Banken finanziell konsolidiert hatte, wartete sie erst mal ab und beobachtete ab 1947 wohlwollend die Verschlechterung der Beziehungen zwischen den Alliierten. Die rasch aufgelebten Hoffnungen auf die Errichtung eines Vierten Reiches wurden von den Führern der ODESSA in Südamerika im Lauf der Zeit als unrealistisch ad acta gelegt. Im Mai 1949 wurde die Bundesrepublik Deutschland gegründet, und die ODESSA steckte sich neue Ziele.
Das erste war die Unterwanderung jeder Stelle des öffentlichen Lebens der jungen Republik. In den späten vierziger und den fünfziger Jahren infiltrierten ehemalige Parteimitglieder den Behördenapparat auf vielen Ebenen. Sie saßen wieder auf Richterstühlen, in Polizeipräsidien und in den Rathäusern. Diese Amtsstellungen, wie subaltern sie in manchen Fällen auch sein mochten, ermöglichten es ihnen, einander gegenseitig vor Ermittlungen und Verhaftungen zu schützen. Wechselseitig nahmen sie ihre Interessen wahr und sorgten dafür, daß die Ermittlung und Strafverfolgung von Verbrechen ehemaliger Kameraden so schleppend wie nur möglich betrieben wurde.
Die zweite Aufgabe der ODESSA bestand in der Infiltration des politischen Machtapparats. Unter Aussparung der höheren Parteiämter sickerten ehemalige Mitglieder der NSDAP auf Wahlkreis- und Unterbezirksebene in die Basisorganisationen der herrschenden Parteien ein. Ein Gesetz, das ehemaligen Nazis verbot, einer politischen Partei beizutreten, gab es nicht. In der Wahlarithmetik wurden die Nazis für die Parteimanager zu einem wichtigen Faktor. Wie ein Politiker mit schöner Offenheit darlegte, liegt dem eine verblüffend einfache Rechnung zugrunde:
»Die toten Opfer des Nationalsozialismus wählen nicht. Fünf Millionen ehemalige Nazis sind wahlberechtigt und machen von diesem Recht Gebrauch.«
Das Hauptziel der beiden ODESSA-Programme war ebenso simpel wie einleuchtend: Es bestand und besteht darin, die Ermittlung und Strafverfolgung von Naziverbrechern zu stören oder wenigstens zu verschleppen. Dabei hatte die ODESSA einen mächtigen Verbündeten – die geheime Mitwisserschaft Hunderttausender Deutscher. Sie hatten dem, was geschehen war, entweder – und sei es auch nur in geringfügiger Weise – Vorschub geleistet, oder sie hatten geschwiegen, obwohl ihnen die Vorgänge bekannt gewesen waren. Nach nahezu zwanzig Jahren konnte ihnen als angesehenen Bürgern an einer mit größerer Energie betriebenen Durchleuchtung längst
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