Die Akte ODESSA: Thriller (German Edition)
vergangener Ereignisse, geschweige denn an der Nennung des eigenen Namens in irgendeinem Gerichtssaal, in dem gegen einen ehemaligen Nazi verhandelt wurde, schwerlich gelegen sein.
Die dritte Aufgabe, die sich die ODESSA im Nachkriegsdeutschland stellte, war die Unterwanderung von Industrie und Handel. Zu diesem Zweck wurden in den fünfziger Jahren ehemalige Nazis mit den Fluchtgeldern aus ausländischen Depots versehen. Mit diesem Geld gründeten viele von ihnen eigene Firmen. Nahezu jedes einigermaßen sachgerecht verwaltete Unternehmen, das Anfang der fünfziger Jahre mit reichlich Betriebskapital gegründet worden war, profitierte ungeschmälert von dem Wirtschaftswunder der fünfziger und sechziger Jahre und entwickelte sich dabei selbst zu einem ertragreichen Geschäft. Die Zwecke dieser kommerziellen Aktivität waren vielfältig. Ein gewisser Teil der von manchen Firmen erzielten Gewinne wurde zur Beeinflussung der Berichterstattung über Naziverbrechen auf dem Weg der Anzeigenvergabe verwandt. Neonazistische Propagandablätter, die in bunter Folge im Nachkriegsdeutschland herausgekommen und wieder eingegangen sind, wurden finanziell unterstützt; einige ultrarechte Verlagshäuser wurden über Wasser gehalten, und ehemaligen Kameraden, die in wirtschaftlicher Not waren, verschaffte man Stellungen. Die vierte Aufgabe war und ist es, jedem Nazi, gegen den ein Verfahren eröffnet wurde, den denkbar besten Rechtsbeistand zu sichern. In späteren Jahren entwickelten die Angeklagten eine besondere Taktik. Sie engagierten einen brillanten und teuren Strafverteidiger und erklärten sich nach wenigen Konsultationen außerstande, die hohen Honorarkosten bezahlen zu können. Der bereits engagierte Anwalt konnte in solchen Fällen auf Grund der Bestimmung des Armenrechts vom Gericht zum Pflichtverteidiger bestellt werden. Als Anfang und Mitte der fünfziger Jahre Hunderttausende deutscher Kriegsgefangener aus Rußland heimkehrten, kamen mit ihnen die in der Sowjetunion verurteilten und nichtamnestierten SS-Leute zurück. Die Bundesregierung hatte sich verpflichtet, sie vor Gericht zu stellen. Im Durchgangslager Friedland gaben junge Mädchen jedem eine Karte mit dem Namen des Strafverteidigers.
Die fünfte Aufgabe ist die Propaganda. Ihre Erscheinungsformen sind mannigfaltig und reichen von der Anregung zur Verbreitung rechtsradikaler Pamphlete bis hin zur lobbyistischen Einflußnahme zugunsten einer baldigen endgültigen Verabschiedung des Verjährungsgesetzes, das der Strafbarkeit und Strafverfolgung jeglicher Naziverbrechen ein Ende setzen würde. Nach wie vor sind ferner Bestrebungen im Gange, die Deutschen von heute glauben zu machen, daß die von den Alliierten genannte Zahl ermordeter Juden, Russen, Polen und anderer ein Vielfaches der tatsächlichen Anzahl darstellt. Sie wird gewöhnlich mit wenigen Hunderttausend beziffert. Ferner darauf hinzuweisen, daß der Kalte Krieg zwischen dem Westen und der Sowjetunion Hitlers Auffassungen in mancher Hinsicht bestätigt habe.
Die Hauptaufgabe der ODESSA-Propaganda besteht jedoch darin, den Westdeutschen von heute einzureden, die SS-Angehörigen seien Soldaten gewesen, die genauso für ihr Vaterland gekämpft hätten wie die Wehrmacht auch – und deswegen gelte es, die Solidarität ehemaliger Kameraden zu bewahren. Dies ist das wichtigste – und zugleich wohl infamste – ihrer Ziele. Während des Krieges hielt die Wehrmacht Abstand von der SS, vor der sie Abscheu empfand und die sie weitgehend mit Verachtung strafte. Gegen Ende des Krieges wurden Millionen junge deutsche Soldaten ins Feuer getrieben oder in russische Kriegsgefangenschaft – aus der viele nicht zurückkehrten. Die SS-Führer bereiteten derweil ihre Flucht ins Exil und in die Sicherheit gründlich vor. Darüber hinaus wurden zahllose Wehrmachtsangehörige von der SS exekutiert, darunter allein Tausende im Zusammenhang mit dem Offiziersaufstand vom 20. Juli 1944, an dem weniger als fünfzig Männer unmittelbar beteiligt waren.
Es ist ein Rätsel, wieso ehemalige Angehörige der Marine und Luftwaffe für frühere SS-Mitglieder die Anrede »Kamerad« gelten lassen; ein Rätsel, warum Wehrmachtsangehörige für ehemalige SS-Mitglieder Solidarität empfinden und ihnen Protektion in Sachen Strafverfolgung zukommen lassen. Und doch hat die ODESSA gerade in dieser Hinsicht ihre größten Erfolge zu verbuchen.
Im großen und ganzen ist es ihr gelungen, westdeutsche Bestrebungen, Nazimörder aufzuspüren
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