Die Akte ODESSA: Thriller (German Edition)
im ziegelgedeckten Dach. Der Eingang – eine schmucklose Glastür – war zu ebener Erde ganz links am Ende des Gebäudes.
Das Gemeindehaus beherbergte ein koscheres Restaurant (das einzige in München) im Erdgeschoß und im ersten Stock die Aufenthaltsräume des Altersheims. Im dritten Stockwerk waren die Verwaltung und die Archivabteilung untergebracht und in den beiden oberen Etagen Gästeräume und die Schlafzimmer der Bewohner des Altersheims. Die Synagoge befand sich hinter dem Gemeindehaus.
Miller ging in das dritte Stockwerk hinauf, und da niemand am Empfangstisch saß, hatte er Zeit, sich in dem Raum umzusehen. Die Bücher in den Regalen waren allesamt neu, denn die Nazis hatten die Bibliothek der Gemeinde verbrannt. Zwischen den Regalen der Leihbücherei hingen die Bildnisse führender Männer aus der Geschichte der jüdischen Gemeinde – Lehrer und Rabbis, die aus den Bilderrahmen heraus sehr ernst in die Welt blickten. Sie erinnerten Miller mit ihren üppigen Vollbärten an die Gestalten der Propheten aus den Religionsbüchern seiner Schulzeit.
Auf einem Regal lagen Zeitungen, deutsche und auch Blätter in hebräischer Schrift. Ein kleiner Mann studierte die erste Seite eines hebräischen Blattes.
»Kann ich Ihnen behilflich sein?«
Miller drehte sich um. Eine dunkeläugige Frau von Mitte Vierzig saß inzwischen auf dem Stuhl hinter dem Empfangstisch. Eine Haarsträhne, die sie mit nervöser Geste zurückstrich, fiel ihr immer wieder ins Gesicht.
Miller trug sein Anliegen vor: Würde sich an Hand der Unterlagen des Archivs der Jüdischen Gemeinde feststellen lassen, ob Olli Adler nach Kriegsende nach München zurückgekehrt sei?
»Und von wo sollte sie zurückgekehrt sein?« fragte die Frau.
»Aus Magdeburg. Davor war sie im Konzentrationslager Stutthof. Und davor in Riga.«
»Großer Gott, Riga«, sagte die Frau. »Ich glaube nicht, daß es in unseren Listen jemanden gibt, der aus Riga zurückgekommen ist. Die sind alle spurlos verschwunden, wissen Sie. Aber ich schau mal nach.«
Sie ging in einen angrenzenden Raum, und Miller sah, daß sie eine Kartei durchblätterte. Das Verzeichnis war nicht sehr umfangreich. Nach wenigen Minuten kam sie zurück.
»Tut mir leid. Eine Person dieses Namens ist hier bei uns nach dem Krieg nicht registriert worden.«
Miller nickte.
»Ich verstehe. Da kann man nichts ändern. Entschuldigen Sie, daß ich Ihnen die Mühe gemacht habe.«
»Sie könnten sich an den Internationalen Suchdienst vom Roten Kreuz wenden«, sagte die Frau. »Es ist ja dessen Aufgabe, vermißte Personen ausfindig zu machen. Der Suchdienst führt Listen mit Namen aus ganz Deutschland, während in unseren Verzeichnissen nur Personen aufgeführt sind, die aus München stammen und hierher zurückgekehrt sind.«
»Wo ist der Suchdienst?« fragte Miller.
»In Arolsen. Das liegt in Nordhessen, in der Nähe von Kassel.«
Miller überlegte kurz.
»Könnte es in München sonst noch jemanden geben, der in Riga gewesen ist? Die Sache ist mir sehr wichtig, denn ich bin auf der Spur des Ghettokommandanten!«
In dem Raum herrschte Schweigen. Miller spürte, daß der Mann, der eben ans Zeitungsregal getreten war, sich umwandte und zu ihm herübersah. Die Frau schien betroffen zu sein.
»Es könnte sein, daß noch ein paar Menschen am Leben sind, die in Riga waren und jetzt in München wohnen. Vor dem Krieg gab es 25 000 Juden in München. Nur jeder zehnte ist zurückgekehrt. Heute sind wir wieder 4000 – ein Teil davon sind Kinder, die nach 1945 geboren wurden. Vielleicht finde ich jemanden, der in Riga war. Aber dazu müßte ich die gesamte Liste der Überlebenden durchgehen. Neben den Namen sind die Lager verzeichnet, in denen die Betreffenden waren. Können Sie morgen wiederkommen?«
»Ja«, sagte er schließlich. »Ich komme morgen wieder. Vielen Dank.«
Schritte hörte, die ihm folgten.
»Entschuldigen Sie«, sagte hinter ihm eine Stimme. Miller drehte sich um. Es war der Mann, der die hebräische Zeitung gelesen hatte.
»Sie stellen Nachforschungen nach Personen an, die in Riga waren?« fragte der Mann. »Sie haben eine Spur des Kommandanten von Riga? Des Hauptsturmführers Roschmann?«
»Ja, die habe ich«, sagte Miller. »Warum?«
»Ich war in Riga«, sagte der Mann. »Ich kenne Roschmann. Vielleicht kann ich Ihnen behilflich sein.«
Der Mann war klein und drahtig und etwa Mitte Vierzig. Er hatte glänzend braune Knopfaugen und sah zerzaust aus wie ein nasser Spatz.
»Ich
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