Die Akte ODESSA: Thriller (German Edition)
folgenden Jahre machten ihn reifer und ruhiger; er hatte nun eine Frau und zwei Kinder und war zum Offizier der Armee befördert worden. Aber den Haß gegen das Land, in das er jetzt reiste, hatten die Jahre nicht gemildert. Er hatte sich bereit erklärt, nach Deutschland zu fliegen, seine Gefühle hinunterzuschlucken und, wie er das in den vergangenen zehn Jahren bereits zweimal hatte tun müssen, die Maske argloser Liebenswürdigkeit und Harmlosigkeit aufzusetzen – die war nun einmal nötig für seine Rückverwandlung in einen Deutschen.
Was sonst noch erforderlich war, hatte die Armee gestellt: den Paß in seiner Brusttasche, die Briefe, Visitenkarten und alle anderen Dokumente, die ihren Inhaber als Staatsbürger eines westeuropäischen Landes auswiesen. Auch die Unterwäsche gehörte dazu und Schuhe, Anzüge und Gepäckstücke eines deutschen Handelsreisenden in Textilien.
Die Maschine tauchte in dichter werdende Wolkendecken über Zentraleuropa ein. Er ließ sein Programm noch einmal vor sich ablaufen; noch einmal hörte er die ruhige, leise Stimme des Obersten in dem Kibbuz-Camp, wo so wenige Früchte und so viele Agenten produziert wurden. Er sollte einen Mann beschatten, einen Deutschen, der vier Jahre jünger war als er. Er sollte ihn im Auge behalten bei seinen Versuchen, in die ODESSA zu kommen. Er sollte den Mann beobachten und seinen Erfolg abschätzen. Er sollte sich die Personen notieren, mit denen er Verbindung aufnahm oder an die er verwiesen wurde. Er sollte die Beobachtungen des jungen Deutschen überprüfen und feststellen, ob es ihm gelang, den Anwerber der deutschen Wissenschaftler aufzuspüren, die zur Mitarbeit an der Entwicklung von Nassers Raketen vorgesehen waren. Unter keinen Umständen sollte er sich exponieren und die Dinge in die eigene Hand nehmen. Bevor der junge Deutsche auffliegen oder durch Verrat hochgehen würde – daß eines von beiden geschah, war unausweichlich –, sollte er Tel Aviv alles berichten, was er herausgefunden hatte. Und genau das würde er tun. Es war nicht erforderlich, daß er seiner Aufgabe mit besonderer Freude nachging. Niemand erwartete von ihm, an seiner zeitweiligen Rückverwandlung in einen Deutschen sonderliches Vergnügen zu empfinden. Niemand verlangte von ihm, sich mit Begeisterung unter seine vormaligen Landsleute zu mischen, ihre Sprache zu sprechen und mit ihnen zu lachen und zu scherzen. Wäre er gefragt worden, er hätte den Auftrag abgelehnt. Denn er haßte sie. Auch den jungen Reporter. Er haßte sie alle und ausnahmslos. Und nichts, dessen war er ganz sicher, würde jemals daran etwas ändern.
Am nächsten Tag kam Leon zum letztenmal zu Oster und Miller. Außer Motti war noch ein Mann dabei. Er war gebräunt und fit und offenbar weit jünger als die anderen beiden Männer. Er wurde Oster und Miller schlicht als »Josef« vorgestellt und verhielt sich während der ganzen Dauer der Zusammenkunft stumm.
»Übrigens habe ich Ihnen heute Ihren Wagen heraufgebracht«, sagte Motti zu Miller. »Er steht auf einem öffentlichen Parkplatz am Markt.«
Er warf Miller den Autoschlüssel zu und bemerkte: »Benutzen Sie ihn aber nicht, wenn Sie zu einem Treffen mit ODESSA-Leuten fahren. Zum einen ist der Wagen viel zu auffällig, und zum anderen gelten Sie als flüchtiger Bäckereiangestellter, der als ehemaliger KZ-Bewacher erkannt wurde. Ein solcher Mann fährt keinen Jaguar. Wenn Sie also fahren, fahren Sie mit der Bahn.«
Miller nickte, bedauerte jedoch insgeheim, auf seinen geliebten Jaguar verzichten zu müssen. Schließlich – so sagte er sich – gibt es Situationen, in denen ein schneller Wagen nützlich sein kann-zum Beispiel, um sich rasch aus dem Staub zu machen.
,Gut. Hier ist Ihr Führerschein. Machen Sie eins von den neuen Photos rein. Wenn Sie jemand danach fragt, können Sie seelenruhig sagen, Sie hätten Ihren Volkswagen in Bremen gelassen, weil die Polizei Sie an Hand der Nummer identifizieren könnte.«
Miller sah sich den Führerschein eingehend an. Auf dem Photo hatte er kurzes Haar, aber kein Bärtchen. Daß er jetzt eines trug, ließ sich schon als Tarnung erklären; das hätte er sich wachsen lassen, seit er identifiziert worden war.
»Der Mann der, ohne selbst etwas davon zu ahnen, als Ihr Bürge fungiert, hat Bremerhaven heute morgen auf einem Luxusdampfer zu einer Kreuzfahrt verlassen. Dieser Mann ist der ehemalige SS-Standartenführer Joachim Eberhardt, jetzt Bäckereibesitzer und Ihr Arbeitgeber. Hier ist sein
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