Die Akte Rosenthal - Seelenfischer-Trilogie 03
versuchten sie mein Volk mit allen Mitteln zu missionieren, wendeten nun selbst Gewalt und Zwang an. Sie zerstörten unsere jahrhundertealten heiligen Stätten und verboten unsere Rituale.
War es nicht genauso bei den ersten Christen? Wurden sie nicht auch erbarmungslos verfolgt? Die Weißen lernen nicht aus ihrer Vergangenheit. Wirkt nicht die Zeit der Kreuzritter bis heute nach? Als Journalistin weißt du, dass viele muslimische Hassprediger sich bis heute auf die Taten der Kreuzritter berufen. Wir vermeiden diesen Fehler. Wir setzen auf Aussöhnung und Vereinigung unserer Völker, nicht auf Vertreibung, Ausrottung oder Missionierung. Wir setzen auf die Zukunft und hängen nicht vergangenen Taten nach, weder guten noch schlechten. Man darf nicht stehenbleiben, sonst dreht man sich irgendwann im Kreis. Amerika tritt auf der Stelle, aber es ist noch nicht zu spät, den richtigen Weg einzuschlagen.“ Erneut kam sie Rabeas Einwand zuvor. „Ich sehe deinen Zorn und ich verstehe ihn, Rabea. Du grollst uns wegen der Opfer, die der Irakkrieg gefordert hat und noch fordern wird. Doch der Kampf für eine gute Sache erfordert immer Opfer. Wieviele Menschen sind in Abraham Lincolns Bürgerkrieg gefallen?“
„Lincoln hat im Gegensatz zu Ihrem Sohn diesen Krieg nicht aus Eigennutz provoziert!“
Die alte Frau lächelte traurig. „Vielleicht hast du Recht. Nicht immer rechtfertigt das Ziel den Weg. Doch rechtfertigt ein falscher Schritt, stehen zu bleiben? Das Ziel aus den Augen zu verlieren? Das ist meine Botschaft an dich: Wenn du meinem Sohn nicht vertraust, dann vertraue mir.“ Sie bannte Rabea mit ihrem Blick. Mehrere Sekunden verstrichen, die Whitewolf völlig ausklammerten, während Rabea und seine Mutter in einem stummen Dialog verharrten.
Endlich nickte Whitewolfs Mutter Rabea zu, strich ihr mit dem Daumen über die Stirn, als wollte sie sie segnen und verließ die Terrasse ohne ein weiteres Wort.
Kurz kam sich Rabea merkwürdig verlassen vor, beinahe, als hätte die alte Frau ihre Existenz vervollständigt.
Whitewolfs Stimme holte sie in die Gegenwart zurück. „Kleine Frau, bevor Sie gehen. Zwei Dinge: Zum Einen weiß von Ihrem kleinen Intermezzo mit der ehrenwerten Dr. Grant. Machen Sie sich keine Illusionen. Ich habe den Chronicle heute Morgen gekauft.
Der zweite Punkt betrifft die Unterlagen, die Sie vor knapp zwei Jahren aus dem Schließfach des Jesuitengenerals geholt haben, das Vermächtnis ihres Messias Jesus. Die Zeit ist noch nicht reif für eine Veröffentlichung. Die Vereinigten Staaten sind auf eine stabile Kirche angewiesen. Sie ist das Fundament des konservativen Amerika, das unser Land zu dem gemacht hat, was es heute ist. Das bedeutet, die Gesellschaft braucht eine stabile Kirche und dies umfasst auch den Vatikan. Die Stärke der christlichen Kirche ist ein Garant für die USA. Ist sie geschwächt und verliert ihre Basis an Gläubigen, sind die Muslime bald in der Überzahl. Inzwischen leben in den Vereinigten Staaten mehr Muslime als Juden. Aber die christlichen Grundwerte sind nach wie vor die Grundwerte der Mehrheit der Amerikaner. Egal, ob sie sich Baptisten, Evangelisten oder Wiedererweckte nennen. Mit anderen Worten, mir, Amerika, liegt sehr daran, dass die Dokumente aus dem Schließfach nicht an die Öffentlichkeit gelangen. Wir leben in einer instabilen Welt, die noch lange nicht ihr Gleichgewicht gefunden hat. Die Welt ist nicht bereit. Noch nicht.“
Rabea sah Whitewolf nachdenklich an, dann nickte sie. Sie hatte tatsächlich verstanden. Whitewolf hatte ihr soeben mitgeteilt, dass er wusste, wo sich die Original-Schriftrolle des Evangeliums des Jesus befand. Und dass er alles tun würde, um eine Veröffentlichung zu verhindern.
Kapitel 38
Rabea verließ das Hotel. Das Gespräch mit Whitewolf und vor allem mit seiner Mutter wirkte in ihr nach. Whitewolfs Mutter hatte ihr zu verstehen gegeben, dass es ein Handeln gab, das jenseits von Gut und Böse existierte. War das nicht angeblich auch Gottes Philosophie? Das Schicksal von Einzelnen auszuklammern und nur auf das Gemeinwohl abzuzielen? Aber wer bestimmte das Gemeinwohl?
Nein, sie hatte entschieden etwas gegen diese schöngefärbte Philosophie. Wie konnten sich Menschen anmaßen, sich selbst über andere zu erheben und ihr Schicksal zu bestimmen? Diese Art der Moral entsprach nicht ihrer Ethik.
Whitewolf und seine Mutter waren nicht Gott, doch sie hatten Gott gespielt. Sie hatten aktiv in das Schicksal Einzelner
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