Die Akte Rosenthal - Seelenfischer-Trilogie 03
Kopf und ging ihr mit langen Schritten entgegen. Er zog einen Stuhl für sie heran und ließ sie darauf Platz nehmen.
Es schien ihn nicht zu wundern, sie hier zu sehen. Er hatte seiner Mutter ein eigenes Flugzeug zur Verfügung gestellt und sie kam und ging, wie es ihr beliebte. Und manchmal überbrückte sie eben einen Ozean.
Rabea fragte sich, wie lange sie ihnen bereits zugehört haben mochte. Sie starrte die alte Frau fasziniert an. Sie hatte schon von Whitewolfs weit über achtzigjährigen Mutter gehört: Die graue Eminenz hinter dem politischen Raubtier . Die Leitwölfin! Trotz ihres Alters wirkte sie keineswegs zerbrechlich. Ihr Schritt war fest und ihr Rücken gerade. Das faltige Gesicht strahlte eine stille Würde aus und ihre Züge waren von beinahe zeitloser Schönheit. Ihr weißes und noch immer dichtes Haar fiel ihr bis auf die Schultern herab, während ihren Hals eine Kette mit einem herrlichen, türkisfarbenen Stein schmückte.
Die alte Frau versenkte ihren Blick in Rabeas. Sie besaß die zweifarbigen Augen ihres Sohnes. Eines blau, eines sienafarben. Die junge Frau fühlte eine jähe Wärme in sich aufsteigen.
„Die kleine Frau wird nichts unternehmen. Nicht wahr, Rabea?“ Sie hatte eine angenehme, tiefe Stimme. Und sie sprach Rabeas Namen in perfektem Jiddisch aus.
Rabea empfand sofort etwas für die Frau, das über eine spontane Sympathie hinausging. Es war das Gefühl, das ganz ohne ihr Zutun eine Verbindung zwischen ihnen entstanden war. Von dieser Frau ging eine ganz besondere Kraft aus. Eine gute Kraft.
„Es gibt kein Gut oder Böse, Rabea“, sagte Whitewolfs Mutter sanft, als hätte sie Rabeas Gedanken gelesen. „Nur Leben und Tod. Einst hast du den Tod dem Leben vorgezogen, aber jetzt wählst du das Leben. Ich kenne deine Qual. Du fühlst dich der Wahrheit verpflichtet. Aber du kannst spüren, dass mein Sohn auf dem richtigen Weg ist. Amerika ist krank, es hat seine Seele verkauft. Wir brauchen Erneuerung. Amerika muss sich aus den alten Werten neu erschaffen, die Menschen müssen auf den ursprünglichen Weg zurückkehren. Die Amerikaner bedauern, dass ihre Kultur nicht älter ist, als ihre Verfassung. Aber das stimmt nicht. Wir haben Kultur. Wir sind ihre Kultur. Wir sind Mohawk - die Ureinwohner Amerikas. Es ist noch immer unser Land. Denn obwohl sich die Europäer alle Mühe gegeben haben, uns auszurotten, gibt es uns noch. So wie dein Volk, die Israeliten noch existieren, Rabea. Doch die Mohawk verfügen nicht über mächtige Verbündete, so wie das Volk der Juden. Unser Volk wurde mit falschen Versprechungen und ungültigen Verträgen betrogen, man hat unser Land gestohlen und die Menschen in Reservate gepfercht, die kaum Nahrung boten. Wir verhungerten. Damit wir uns ernähren konnten, haben die Weißen uns das Glücksspiel erlaubt.“
Rabea nickte. „Ich weiß. Die Casinos Ihres Sohnes bilden den Grundstock für sein Vermögen.“
„Ja, wir haben uns arrangiert und die Weißen beobachtet. Wir kennen ihre Schwächen. Noch immer treibt sie die Gier an: Nach Land, Geld und Macht.“
„Was treibt Ihren Sohn anderes an? Greift nicht auch er nach der Macht?“, konterte Rabea.
„Mein Sohn, wie auch sein Vater und alle seine Vorfahren, waren Häuptlinge ihres Volkes. Es muss immer einen Anführer geben, um die Geschicke eines Volkes zu leiten. Mein Sohn wird seine Aufgabe gut erfüllen und unser Land führen.“
„Ich habe gelesen, dass die Menschen gerne ihren Herrn wechseln in der Hoffnung, einen besseren zu bekommen. Die Geschichte zeigt, dass sich bisher alle darin getäuscht haben.“
Zum ersten Mal lächelte die alte Frau. „Mein Sohn wird führen und ich werde meinen Sohn führen. Ich bin eine alte Frau, aber mein Tod liegt noch in weiter Ferne.“
Auch Rabea lächelte jetzt. Sie fragte sich, in wie weit hier Übereinkunft zwischen Mutter und Sohn herrschte. Sie streifte Whitewolf mit einem Blick. Er verzog keine Miene.
„Mein Sohn weiß das. Es ist unsere Tradition, dass die Clanmütter regieren“, sagte die alte Frau mit Nachdruck. Wieder schien es, als hätte sie Rabeas Gedanken gelesen: „Wir wollen zurückkehren auf den alten Weg. Wir wollen unsere kulturelle Identität zurück. Sieh hin, Rabea, wie viele der Einwanderer sind aus ihrer alten Heimat geflohen sind, weil sie dort wegen ihrer Religion verfolgt worden sind. Und was taten diese Verfolgten nun? Sie brachten in die Neue Welt die Zwistigkeiten ihrer alten Welt mit. Statt Toleranz zu üben,
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