Die Akte Vaterland: Gereon Raths vierter Fall (German Edition)
hieß, am Abend mit einem Projektor an die Wand geworfen worden. Und jedes der für Deutschland so überaus günstigen Resultate wurde durch Jubel und Hurrarufe begrüßt. Immer höher schlugen die Wogen der Begeisterung, als kurz vor Mitternacht das endgültige Abstimmungsergebnis bekannt gegeben wurde. Nur zwei Stimmen für Polen, alle anderen deutsch. Wenige Minuten später setzte sich ein Fackelzug in Bewegung, und ein Holzstoß auf dem Marktplatz wurde angezündet. Die Geburt der Treuburger Legende, dachte Rath. Jetzt wusste er auch, welchen tieferen Sinn das Feuer gestern Abend gehabt hatte, es war sozusagen eine Art Gedächtnisfeuer.
Gustav Wengler jedenfalls dürfte mit dem Tenor der Berichterstattung zufrieden sein. Nicht nur wurde seine Rede umfassend gewürdigt und gelobt, er war auch auf drei Fotos zu sehen, zudem rahmten Werbeanzeigen für Mathée Luisenbrand und Treuburger Bärenfang die Sonderausgabe ein. Von einem Interview mit dem Vorsitzenden des Heimatdienstes allerdings konnte Rath nichts entdecken. Sämtliche Wengler-Zitate waren nahezu im Wortlaut der Rede entnommen. Wahrscheinlich hatte der Direktor dem Redakteur sein Redemanuskript zur Verfügung gestellt.
Rath drückte seine Zigarette aus, legte eine Mark auf den Tisch und brach auf. In der Buchhandlung Dytfeld erstand er noch eine zusammenklappbare Leselupe, die sogar in seine Jackentasche passte, dann ging er den Marktplatz hinunter. Er hatte noch ein gutes Stündchen Zeit, sich den Briefen zu widmen. Das müsste reichen, um durchzukommen, mit Lupe allemal.
Sein Hotelzimmer sah immer noch so aus, wie er es vor einer knappen Stunde verlassen hatte. Rath atmete auf. Seine größte Befürchtung wäre gewesen, Hella Rickert beim Bettenmachen zu erwischen. Er hängte das Nicht stören – Schild an den Türknauf, schloss sicherheitshalber noch ab, setzte sich an den Schreibtisch und klappte seine neu erstandene Lupe auf.
Er öffnete die Schublade und wollte die Mappe mit den Briefen herausholen, doch die Lade war leer.
Rath schaute in die zweite Schublade. Nichts.
Hatte er die Mappe gestern doch noch einmal herausgeholt?
Er versuchte sich zu erinnern, doch sein Gedächtnis war so leer wie die Schubladen in diesem Hotelzimmer.
Er hätte nicht so viel trinken sollen! Dieser verfluchte Rammoser! Warum nur musste er sich von einem dem Alkohol etwas zu sehr zugeneigten Dorflehrer immer wieder zum Trinken verführen lassen?
Verführen lassen …
Verdammt! Dieses Aas!
Als er die Treppen hinunterkam, stand Hermann Rickert wieder hinter der Rezeption, von der Tochter des Hauses jedoch war nichts zu sehen. Der Anblick von Hermann Rickert bremste seinen Elan ein wenig; hätte er Hella allein angetroffen, er hätte sie glatt übers Knie gelegt!
»Kann ich etwas für Sie tun, Herr Kommissar?«, fragte der Hotelier in gewohnt devoter Liebenswürdigkeit.
Rath räusperte sich und lehnte sich über den Tresen. »Hören Sie … Ich vermisse eine schwarze Mappe, ist so etwas vielleicht gefunden worden? Gestern Abend habe ich sie noch gehabt.«
»Tut mir leid.« Rickert zuckte bedauernd die Achseln.
»Müsste eigentlich auf meinem Zimmer liegen, aber da finde ich sie nicht mehr.«
»Für Wertsachen haben wir einen Tresor …«
»Es sind keine Wertsachen, es ist eine schlichte schwarze Mappe mit Papieren drin.«
»Wenn es sich um Wertpapiere handelt … auch so etwas sollten Sie mir anvertrauen.«
»Nein, nichts von Wert, jedenfalls nichts von materiellem. Aber es sind möglicherweise Beweismittel!«
»Wie gesagt, wir haben einen Tresor, Sie hätten …«
»Wo ist denn Ihr Fräulein Tochter?«
»Was wollen Sie denn damit sagen? Meine Tochter ist doch keine Diebin!« Hermann Rickert klang entrüstet. »Außerdem war sie heute noch gar nicht in Ihrem Zimmer, hätte also nicht einmal eine Gelegenheit zum Diebstahl gehabt.«
Rath wusste es besser, doch er zog es vor zu schweigen.
»Dann sagen Sie ihr doch bitte, wenn sie heute sauber macht, soll sie nach einer schwarzen Mappe schauen, vielleicht ist die ja hinter irgendeinen Schrank gerutscht. Und wenn Sie etwas finden, sagen Sie mir doch bitte gleich Bescheid.«
»Selbstverständlich, Herr Kommissar.«
Der Hotelier schaute wieder so unterwürfig liebenswürdig, wie Rath es an ihm kannte und hasste.
»Nur, damit Ihnen das klar ist, Herr Rickert: Es handelt sich um wichtige Dokumente. Ich hoffe, sie tauchen wieder auf. Sonst sehe ich mich eventuell gezwungen, Ihr komplettes Hotel von
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