Die Akte Vaterland: Gereon Raths vierter Fall (German Edition)
»Und Sie meinen, darin können Sie etwas finden, das Gustav Wengler belastet? Das Mordopfer war seine Braut.«
Rath zuckte die Achseln. »Wir werden sehen. Aber eines können Sie mir glauben: Ich werde ihm so lange einheizen, bis er sich aus seinen Lügen nicht mehr herauswinden kann.«
Naujoks nickte zufrieden. »Dann heizen Sie mal. Ich hoffe, Sie werden fündig.« Er holte die Akte aus der Tasche. »Der Fall Mathée war damals schon abgeschlossen, als ich hier in die Stadt kam. Der Mörder saß längst in Wartenburg, die Leute redeten trotzdem noch darüber.«
»Die Leute reden heute noch darüber. Nur haben sie damals den Falschen eingesperrt. Und ich glaube, eine ganze Menge wussten auch, dass es der Falsche war. Unter anderem Gustav Wengler.«
Naujoks schaute sich um, als fürchte er, jemand könne mithören. »Über solche Dinge sollten Sie hier nicht so laut reden.«
Rath zeigte auf das Bahnhofsrestaurant. »Darf ich Sie zu einem Kaffee einladen?«
»Sehr freundlich, aber vielen Dank. Hier in der Stadt kennen mich noch zu viele Leute. Es ist besser, die sehen mich nicht zusammen mit Ihnen.«
»Vielleicht haben Sie recht.«
»Natürlich habe ich recht. Sie sollten auf sich aufpassen: Die Leute hier mögen neugierige Polizisten nicht besonders.«
»Das habe ich schon gemerkt.«
»Ich nehme jedenfalls den nächsten Zug zurück nach Lyck.« Naujoks schaute auf die Uhr. »Fährt in einer halben Stunde. Den Kaffee trinke ich lieber alleine. Und Sie sollten sich ebenfalls ein ruhiges Plätzchen suchen, wo Sie niemand beim Aktenstudium stört.«
Rath nickte. Er verabschiedete sich von dem Polizeimeister a. D. und bedankte sich noch einmal. Naujoks winkte ab und verschwand im Bahnhofsrestaurant.
Rath trat aus dem Bahnhofsgebäude, die Akte unterm Arm, und fragte sich, wo in dieser Stadt er ein ungestörtes Plätzchen finden würde. Ihm fiel nichts ein. Nicht erst seit Naujoks’ Warnung hatte er das Gefühl, als habe sich ganz Treuburg gegen ihn verschworen, als werde er überall und ständig beobachtet.
Und dann wusste er, wo er die Akte lesen konnte. Schräg gegenüber vom Treuburger Bahnhof, einen Steinwurf entfernt, hielten ebenfalls Züge: die Kleinspurbahn von Mierunsken nach Schwentainen.
Es passte. Der nächste Zug ging in zehn Minuten, und Rath löste eine Fahrkarte.
Die Kleinbahn hatte nicht nur eine schmalere Spurbreite als die Reichsbahn, auch ihre Waggons waren kleiner. Der Zug nach Schwentainen, der auf Rath wirkte wie eine Spielzeugeisenbahn, stand bereits auf dem Gleis, und die Lokomotive dampfte vor sich hin. Rath fand ein einsames Abteil, in dem er sich einen Fensterplatz sicherte.
Laut Fahrplan hielt die Bahn an jeder Milchkanne, doch das war ihm nur recht, er hatte es nicht eilig. Der erste Haltepunkt, kurz nachdem sie Treuburg verlassen hatten, war die Luisenhöhe. Rath konnte die Backsteinesse der Brennerei sehen und die kupfernen Tanks. Ein paar Leute stiegen aus, niemand stieg zu, und die Bahn setzte ihre Fahrt fort. Nun konnte Rath sich ziemlich sicher sein, dass niemand mehr einsteigen würde, der den Kommissar aus Berlin kannte. Er klappte den dicken Aktenordner auf und las.
Die Bahn brauchte eine gute halbe Stunde bis Schwentainen, und als der Zug nach fast einem Dutzend weiterer Haltestellen seinen Zielbahnhof endlich erreicht hatte, hatte Rath sich einen groben Überblick über den Mordfall Mathée vom Juli 1920 verschaffen können.
Er war überrascht, wie viele Namen er kannte.
Wachtmeister Siegbert Wengler war es, der die tote Anna von Mathée am Sonntag, 11. Juli 1920, gegen 15.30 Uhr im seichten Uferwasser eines kleinen, namenlosen Sees im Wald hinter Markowsken gefunden hatte. Dem Protokoll des Wachtmeisters war zu entnehmen, dass er einen Mann über die Leiche gebeugt vorgefunden hatte, den er, als er sich seiner Festnahme mit Gewalt entziehen wollte, mithilfe seines Gewehrkolbens unschädlich gemacht und schließlich mit Handfesseln aus dem Wald geführt hatte, als dringend tatverdächtig des Mordes an der Anna von Mathée , wie es im Protokoll hieß. Der Name des Mannes: Jakub Polakowski.
Das Pferd der Toten hatte, angebunden an einen Baum, noch auf einer nahen Lichtung gestanden, das Fahrrad des Polakowski direkt am Seeufer gelegen.
Wachtmeister Wengler selbst hatte den Tod der Anna von Mathée festgestellt, bevor er den Tatort wieder verlassen und einen Mediziner angefordert hatte. Die Leiche hatte er zuvor ans Ufer gezogen und ihr sogar die Augen
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