Die Akte Vaterland: Gereon Raths vierter Fall (German Edition)
Opfer nicht, er lähmt sie«, sagte Charly.
»So ist es. Nur dieses Mal hat er das nicht getan.« Karthaus schaute sie an und dann Böhm. Er hatte ihre volle Aufmerksamkeit. »Die Blutanalyse ist leider noch nicht abgeschlossen«, fuhr der Doktor fort, »aber ich würde jede Wette eingehen, sie fällt diesmal negativ aus. Habe jedenfalls keinerlei Einstichstelle finden können, am gesamten Körper nicht.«
»Also hat er Aßmann festgebunden?«, fragte Böhm.
»Das habe ich zunächst vermutet. Aber wir haben keinerlei Kampfspuren, auch nichts, was darauf hindeutet, dass der Mann gefesselt wurde.«
»Und das Wasser auf der Pritsche, das nasse Tuch? Das deutet doch auf Wasserfolter hin.«
»Es soll wohl darauf hindeuten, würde ich sagen. Wasser haben wir lediglich in der Luftröhre gefunden, und das ist definitiv erst post mortem dort eingedrungen.«
»Nichts in der Lunge?«
Karthaus schüttelte den Kopf.
»Ein Nachahmungstäter«, sagte Charly nachdenklich, und der Gerichtsmediziner nickte.
»Das vermute ich auch. Nichts deutet darauf hin, dass er der tormenta de toca ausgesetzt war, geschweige denn, daran gestorben ist. Was sein Glück war, wenn man bei einem Toten davon sprechen darf. Wahrscheinlich hat er kaum etwas von seinem Tod gemerkt. Außer dass das Licht ausging.« Karthaus räusperte sich. »Bildlich gesprochen«, sagte er und warf Charly einen entschuldigenden Blick zu. »Um auf das Wasser zurückzukommen: Ich habe sowohl das auf der Pritsche und in seinem Haar untersucht wie auch die Restfeuchtigkeit in diesem roten Tuch. Der seltsame Geruch – es ist tatsächlich Pitralon. Ich habe Spuren von Kampfer im Wasser gefunden und von Alkohol. Es war mit Rasierwasser versetzt, wenn auch stark verdünnt.«
»Kann das vom Opfer stammen?«, fragte Böhm.
»Unwahrscheinlich.« Karthaus schüttelte den Kopf. »Ich habe eine andere Erklärung.« Er zeigte auf die zugedeckte Leiche. »Diesem Mann wurde das Genick gebrochen, und zwar von jemandem, der sich damit auskennt, jemandem mit Nahkampfausbildung oder so. Alles andere wurde nur vorgetäuscht.« Der Gerichtsmediziner schaute die beiden Kriminalbeamten an. »Und er hatte nicht viel Zeit, das Ganze vorzubereiten, er musste improvisieren. Das Wasser, das der Täter brauchte, um den Eindruck der tormenta de toca hervorzurufen, das hat er, so meine Theorie, irgendwie in die Zelle bringen müssen. Und da hat er eine leere oder fast leere Pitralonflasche genommen und mit Wasser gefüllt, weil er gerade nichts anderes zur Hand hatte.«
79
R ath ging spazieren. Am liebsten wäre er direkt wieder zurückgefahren, doch der nächste Zug nach Treuburg ging erst in eineinhalb Stunden. Also spazierte er, die Akte unterm Arm, durch den Ort. Schwentainen war ein Straßendorf, das direkt am Ufer des gleichnamigen Sees lag, mit einer kleinen Kirche, auf deren Turm rote Dachziegel in der Sonne leuchteten.
Vielleicht tat es ihm ganz gut, dass er zu diesem Spaziergang gezwungen wurde: Er musste nachdenken, er durfte nicht voreilig handeln, obwohl er Gustav Wengler am liebsten sofort zur Rede gestellt hätte.
Er versuchte, das Gelesene zu sortieren, verglich es mit den Zeilen, die Radlewski in sein Tagebuch geschrieben hatte.
Es war ein abgekartetes Spiel. Alles. Von Annas Tod bis zum Mordprozess gegen Jakub Polakowski.
Wenglers Arbeiter hatten den jungen Assistenzarzt bewusst in eine Schlägerei verwickelt, damit Gustav Wengler seine Braut in aller Ruhe stellen konnte. An jenem See, an dem sie sich heimlich mit ihrem Liebhaber traf, an jenem Baum, in dessen Rinde sich das junge Liebespaar mit seinen Initialen bereits verewigt hatte.
War der Mord an Anna von Mathée geplant? War die Vergewaltigung geplant? Oder sollte es nur eine Aussprache werden, die entsetzlich aus dem Ruder gelaufen war? Die zu einem brutalen Mord geworden war? Für den die Brüder Wengler in Jakub Polakowski den passenden Sündenbock vorzuweisen hatten.
Rath hatte Schwentainen verlassen, war über eine schmale Landzunge gegangen, die zwei Seen voneinander trennte, und hatte das Dorf am anderen Ufer erreicht. Suleyken, Kreis Oletzko, Reg. Bez. Gumbinnen , informierte das Ortschild.
Er setzte sich ans Seeufer auf einen Steg und schaute auf die Dächer von Schwentainen, die sich am gegenüberliegenden Seeufer aufreihten. Eine atemberaubend schöne Landschaft.
Und nichts durfte die Idylle stören im Landkreis Oletzko, Regierungsbezirk Gumbinnen, schon gar nicht die Wahrheit.
Die Wahrheit,
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