Die Akte Vaterland: Gereon Raths vierter Fall (German Edition)
es auch in der modernen Medizin einzusetzen, bei chirurgischen Eingriffen …«
»Ein Gift?«
»… als Muskelrelaxans bei Operationen des Bauchraums und des Brustkorbs. Tubocurarin ist ein Mittel, das die Muskulatur entkrampft und viele Eingriffe so überhaupt erst möglich macht. Sie müssen es nur richtig dosieren. Und natürlich die Atmung überwachen.«
»Und im Fall unseres Toten wurde das Mittel nicht richtig dosiert.«
Karthaus zuckte die Achseln. »Schwer zu sagen. Aber da wir nach einer Todesursache suchen und der Ertrinkungstod trotz aller Symptome eigentlich auszuschließen ist, würde ich sagen, dass unser Mann an einer Lähmung seiner Atmungsmuskulatur gestorben ist. Darauf deutet auch die eigentlich zu geringe Menge Wasser in beiden Lungenflügeln hin.«
Rath nickte nachdenklich. »Das heißt, jemand hat dem armen Lamkau eine Spritze in die Halsvene gerammt, die ihn erst außer Gefecht gesetzt und dann getötet hat.«
Karthaus nickte.
»Und gleichzeitig«, fuhr Rath fort, »hat dieser Jemand versucht, den armen Kerl zu ertränken? Das passt doch nicht.«
Karthaus zuckte die Achseln. »Vielleicht hat er ihn auch nur gefoltert. Seit der spanischen Inquisition ist die Wasserfolter bekannt. Der Delinquent glaubt wirklich zu ertrinken und erleidet Todesängste.«
»Und wie soll das funktionieren?«
»Bei der tormenta de toca wird der Delinquent fixiert, und Sie legen ihm ein Tuch über Mund und Nase, über das Sie Wasser gießen.«
»Wie viel Wasser braucht man denn da?«
»Ein paar Liter reichen. Sie müssen nur dafür sorgen, dass das Tuch ständig nass gehalten wird. Den Rest besorgt der Würgereflex des Delinquenten.«
»Sie kennen sich erschreckend gut aus, Doktor. Muss man sich Sorgen machen?«
Karthaus blieb ungerührt. »Die Geschichte der hochnotpeinlichen Befragung ist eine äußerst interessante Materie. Gerade aus medizinischer Sicht.«
»Soso.« Rath widerstand dem Drang, unwillig den Kopf zu schütteln. Doktor Karthaus mit seiner hageren Gestalt und seinen eingefallenen Wangen war ihm tatsächlich manchmal unheimlich. Mit dem eher gemütlichen Doktor Schwartz und dessen makabrem Humor konnte er mehr anfangen. »Was ich nicht verstehe … Folter heißt doch, dass man etwas von seinem Opfer wissen möchte. Warum gibt man ihm dann vorher eine Betäubungsspritze? Und dann noch eine tödliche?«
»Betäubungsspritze stimmt nicht ganz«, sagte Karthaus ungerührt. »Tubocurarin wirkt nicht wie ein Schmerzmittel, es lähmt nur Ihre Muskulatur, aber Sie erleben alles bei vollem Bewusstsein und vollem Schmerzempfinden. Allerdings können Sie sich nicht regen und nicht einmal sprechen.«
Rath schüttelte sich. »Da kann man ja nur hoffen, dass einem so etwas nicht im Operationssaal passiert.«
»Sie werden lachen«, sagte Karthaus und machte dabei ein todernstes Gesicht, »aber in einigen Fällen ist genau das schon passiert. Dummerweise konnten die Patienten sich erst nach der Operation äußern, da sie während des Eingriffs vollständig paralysiert waren.«
»Hören Sie auf, Doktor! Da kann ich ja von Glück reden, dass ich noch nie unter das Messer eines Chirurgen musste.«
»Kein invasiver Eingriff ist frei von Risiko, das wird Ihnen jeder Kollege bestätigen.« Der Mediziner zuckte die Achseln. »So gesehen bin ich froh, dass ich bei meiner Klientel hundertprozentig sicher sein kann, niemanden mehr zu quälen, wenn ich ihm den Brustkorb öffne.«
Der Doktor sagte das ohne jeden Hauch von Ironie in seiner Stimme.
9
E r war zu spät gekommen. Verdammt! Er hätte früher von Lamkaus Tod erfahren sollen, dann wäre das nicht passiert, erst heute Morgen hatten sie ihn angerufen. In Treuburg würden sie toben, aber was sollte er denn tun? Da war dieser grüne Opel vorgefahren, gerade als er bei der Witwe reinschneien wollte mit ein paar Beileidsbekundungen, und diese beiden Kerle waren ausgestiegen, denen man auf hundert Meter ansah, dass sie Bullen waren. Also hatte er seinen Weg fortgesetzt, war weiter die Ordensmeisterstraße hinuntermarschiert, als gehöre die zu seinem Revier und seiner täglichen Strecke, und hatte die beiden Kerle innerlich verflucht. Verdammt!
Mit ein bisschen Glück würden sie nichts finden, aber er setzte nicht allzu sehr darauf. Das da waren keine Revierbullen aus Tempelhof, das waren Mordermittler vom Alex, durch Gennat geschult, die übersahen nichts.
Verdammt, verdammt!
Er würde abwarten, bis die Bullen wieder verschwunden waren, und dann
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