Die Akte Vaterland: Gereon Raths vierter Fall (German Edition)
ebenso wenig den Anblick ihrer Ohnmacht; sie drehte ohne ein weiteres Wort auf dem Absatz um, knallte die Tür zu, obwohl sie das eigentlich gar nicht beabsichtigt hatte, und lief durchs Vorzimmer hinaus auf den Gang, ohne zu wissen, was sie jetzt tun sollte.
Sie war sich nicht einmal sicher, ob sie überhaupt jemandem von dem Zwischenfall erzählen sollte, der ihr immer unwirklicher erschien, je länger sie darüber nachdachte. Als habe sie es nur geträumt.
Doch ihre Wut sagte ihr unmissverständlich, dass es passiert war, und noch deutlicher ihre Scham. Als sei sie diejenige, die sich für die Unverfrorenheiten schämen müsse, die Dettmann ihr um die Ohren gehauen hatte. Ja, sie schämte sich tatsächlich, und als sie das merkte, wurde sie noch wütender.
Schließlich, ohne zu wissen, wie sie dorthin gelangt war, fand sie sich auf der Damentoilette wieder, die man auch in der Inspektion A eingerichtet hatte, für die zahlreichen Sekretärinnen und Stenotypistinnen, die hier arbeiteten. Glücklicherweise begegnete sie keiner einzigen, der große Waschraum war leer, erst kurz vor der Mittagspause würde er sich füllen, wenn alle noch mal ihren Lippenstift nachzogen. Charly schloss sich in einer Kabine ein und setzte sich auf den Klodeckel. Und dann kamen ihr die Tränen, ohne dass sie etwas dagegen tun konnte, Tränen der Wut. Sie trat gegen die Kabinentür, doch das brachte nichts außer einem lauten Poltern und einem schmerzenden Fuß.
Dettmann, dieses verdammte Arschloch!
Am meisten ärgerte sie sich darüber, dass er sie so getroffen hatte mit seinen feigen Bosheiten. Gerade in einem Moment, da sie auf Wolke sieben schwebte, da sie geglaubt hatte, ein vollwertiger Teil des Berliner Polizeiapparates zu sein.
Nun war sie auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt worden. Und die Tatsachen sahen nun einmal so aus, dass sie als Frau in der Kriminalpolizei ein Nichts war, dass jeder dahergelaufene Kriminalkommissar mit einer karrierefördernden Verbandsmitgliedschaft und einer schmutzigen Phantasie ihr Unverschämtheiten ins Gesicht sagen konnte, ohne je Konsequenzen fürchten zu müssen.
15
R ath saß auf dem ausgeleierten grünen Sofa in Gennats Büro und vor einem unglaublichen Berg Kuchen. Auf seinem Teller war nur ein kleines, aber umso trockeneres Stück Nusskuchen gelandet, sich selbst hatte der Buddha ein Stück Stachelbeertorte genehmigt. Und nun kam Trudchen Steiner, Gennats Sekretärin, noch mit einer Kanne frisch aufgebrühtem Kaffee. Rath ließ sich einschenken, mehr als dankbar, sein Mund war schon ganz ausgetrocknet vom Nusskuchen.
»Das war ja eine eindrucksvolle Vorstellung, die Sie uns heute Morgen gegeben haben«, sagte Gennat und spießte ein Stück Torte auf seine Kuchengabel. Rath hatte den neuen Sachstand im Fall Vaterland , wie er intern getauft worden war, auf der Morgenbesprechung dargelegt, und insbesondere die Ergebnisse der Blutanalyse hatten Gennat beeindruckt.
»Schon weitergekommen mit der Suche nach den Bezugsquellen von diesem indianischen Pfeilgift?«
»Die Kollegin Ritter ist an der Sache dran. Krankenhäuser, Universitätsinstitute und alle bekannten Lateinamerikaforscher in der Stadt können wir schon einmal ausschließen. Die Kollegin hat den Vorschlag gemacht, mithilfe der Rauschgiftfahnder die illegalen Bezugsquellen von Betäubungsmitteln zu überprüfen.«
»Wie macht Fräulein Ritter sich denn so? Sind Sie zufrieden?«
»Sehr.« Rath beeilte sich, seinen Nusskuchen herunterzuschlucken. »Fräulein Ritter arbeitet schnell und zuverlässig.«
»Nicht wahr? Sie wäre eine Bereicherung für die Inspektion A. Aber leider kann ich sie nur von Fall zu Fall ausleihen von der Kollegin Wieking.« Er schüttelte den Kopf. »Na, ich muss schon froh sein, dass es überhaupt eine weibliche Kriminalpolizei gibt.«
»Neben dem Tathergang«, fuhr Rath fort, »beschäftigt uns vor allem die Motivsuche. Und da setzen wir nach wie vor bei den tausend Mark an, die wir bei der Leiche gefunden haben.«
»Noch keine Erklärung für das viele Geld?«
Rath schüttelte den Kopf. »Die Rechnungen im Vaterland wurden nicht in bar beglichen. Die Kollegen Lange und Gräf versuchen gerade, die letzte Tour von Herbert Lamkau zu rekonstruieren. Wir haben auch immer noch keine Antwort auf die Frage, warum der Chef an diesem Morgen persönlich ausgeliefert hat.«
»Aber Sie haben eine Vermutung?«
»Vielleicht sollte mit dem Geld jemand bestochen werden, irgendjemand im Haus
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