Die Akte Vaterland: Gereon Raths vierter Fall (German Edition)
Charlottenburg saß, wieder halbwegs gesellschaftsfähig, überlegte sie, was sie Gereon eigentlich aus Haus Vaterland berichten konnte. Dass sie sich mit einem Neger in der Wildwestbar getroffen und dort alle Blicke auf sich gezogen hatte? Na, es würde reichen, wenn sie ihm die Informationen lieferte, Einzelheiten zum Thema Luisenbrand. In der Carmerstraße ließ sie die Kraftdroschke halten und zahlte den Fahrer. Sie schaute die Straße hinunter zum Steinplatz und auf die Hausfassade. Wie Nachhausekommen fühlte sich das immer noch nicht an. Doch sie freute sich auf Gereon, sie freute sich auf ihn und auf den Hund und auf einen netten Abend.
Der Pförtner grüßte sie beiläufig, als sie seine Loge passierte, der Fahrstuhlführer brachte sie ungefragt in die dritte Etage – ein bisschen war das hier vielleicht doch schon ein Zuhause.
Und nach diesem Tag heute hatte sie nichts so nötig wie Nachhausekommen.
Sie klingelte, und während sie wartete und ihre Fingernägel betrachtete, fiel ihr ein, dass sie zwar ihre Hände mit Zahnpasta abgerieben, in der ganzen Hektik, die Greta veranstaltet hatte, aber völlig vergessen hatte, sich die Zähne zu putzen. Sie hatte bestimmt noch eine Alkoholfahne. Verdammt! Sie hörte etwas poltern und dann seine Schritte. Die Wohnungstür öffnete sich. Gereon war in Hut und Mantel. Und der Hund schien nicht da zu sein, sonst hätte der sie längst begrüßt. Charly wunderte sich.
»Auch gerade erst nach Hause gekommen?«
Er schüttelte den Kopf.
»Ganz im Gegenteil«, sagte er.
Was er damit meinte, verstand sie erst, als sie den großen gepackten Koffer im Flur bemerkte.
»Was ist denn los?«, fragte sie und versuchte ein Grinsen. »Zwei Tage verlobt, und du willst mich schon verlassen?«
»So ähnlich.« Er lächelte gequält. »Tut mir leid, Charly, ich muss dir etwas beichten …«
27
D ie Schere ist scharf, sie muss das Zeitungspapier nur leicht berühren, und schon fällt es auseinander. Sorgfältig schneidest du um den doppelten schwarzen Rand herum; er soll unversehrt bleiben, du willst ihn nicht zerstören.
Tod, wo ist dein Stachel? Hölle, wo ist dein Sieg?
Du fragst dich, ob die Witwe sich für den Korintherbrief entschieden hat oder das Bestattungsinstitut. Aber was für eine Rolle spielt das schon?
Gott dem Allmächtigen hat es in seinem unerforschlichen Ratschlusse gefallen, meinen geliebten Ehemann unerwartet und plötzlich mitten aus einem arbeitsreichen Leben zu reißen.
Eine solche Todesanzeige erreicht viele Menschen, aber immer nur solche, die auch die Zeitung lesen, in der sie erscheint. Du aber sorgst dafür, dass die richtigen Leute sie ebenfalls zu Gesicht bekommen, Leute, die seine Witwe nicht kennt, von deren Existenz sie nicht einmal etwas ahnen dürfte.
Herbert Lamkau
* 5. Januar 1895
† 2. Juli 1932
In der Kreuz-Zeitung war sie erschienen. Hättest du dir eigentlich denken können bei einem Preußen wie Lamkau. Der Mann im Zeitungsstand hatte schon meckern wollen, weil du so viele Zeitungen nacheinander durchgeblättert hast, schon den dritten Tag in Folge, hat aber dann doch seinen Mund gehalten, als du dein Portemonnaie gezückt hast. Und komisch geguckt, als du gleich zwei Kreuz-Zeitungen erstanden hast. Aber gesagt hat er nichts. Das ist das Schöne an Berlin, hier wundert sich keiner über gar nichts mehr.
Eine einzige Aufgabe hast du noch zu erledigen in dieser Stadt, dann wirst du dich endlich auf die Reise machen können. Zurück. Zurück in die Vergangenheit.
Zu dem Tag, an dem dein altes Leben endet.
Du kannst nichts dagegen tun, du erlebst ihn immer wieder aufs Neue. Es war ein schöner Tag, das weißt du noch, bis zu dem Moment, als er zerbrach und die Welt zersplitterte wie viel zu dünnes Glas.
Ein wunderschöner Sonntagmorgen, die Stadt im Fahnenschmuck. Der friedliche Schein trügt, überall lauert der Hass. Den feindseligen Blicken, die sie dir zuwerfen, begegnest du mit deinem Lächeln. Du lächelst, weil du an die Zukunft glaubst, du weißt nicht, dass dein Leben eigentlich schon zu Ende ist – in dem Moment, da du auf die Straße trittst und in die Sonne blinzelst.
28
D ie Motoren dröhnten in seinen Ohren, unerträglich laut. Die Maschine machte einen Höllenlärm, und dennoch dauerte es eine kleine Ewigkeit, ehe sie sich überhaupt in Bewegung setzte. Rath spürte ein Ruckeln, dann merkte er, wie sie langsam Fahrt aufnahmen. Unwillkürlich krampften sich seine Hände um die Armlehnen, bis ein
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