Die Akte Vaterland: Gereon Raths vierter Fall (German Edition)
Blick aus dem Fenster ihm zeigte, dass sie noch keinen Millimeter abgehoben hatten, sondern lediglich über das Flugfeld rollten.
Charly hatte ihm erzählt, in einem Flugzeug, das sei etwas anderes als auf einem Turm oder einem Gerüst, da werde er keine Probleme bekommen mit seiner Höhenangst. Außerdem seien Flugzeuge, statistisch gesehen, sogar sicherer als die Eisenbahn oder das Automobil. Das mochte alles zutreffen, aber er hatte Angst, verdammt noch mal, er hatte schon Angst, bevor sie überhaupt in der Luft waren!
Ihre Beruhigungsversuche vorhin, als sie mit einem Dutzend Männer, überwiegend Geschäftsreisende, darauf warteten, dass der Nachtflug nach Königsberg aufgerufen wurde, hatten nichts gefruchtet. »Vielleicht siehst du ja einen Elch«, hatte sie gesagt. Als sei seine Reise nach Masuren eine Art Urlaub. Und er war sich nicht ganz sicher, ob sie ihn damit hatte trösten wollen oder ob es der schiere Sarkasmus war.
Denn Charlys Laune war nicht die beste. Auf der Fahrt nach Tempelhof hatten sie kaum gesprochen, und wenn, dann hatten sie sich gestritten. Die erste Woche als frisch verlobtes Paar hatte auch sie sich wohl anders vorgestellt. Jedenfalls nicht so, dass einer von ihnen gleich wieder auf Reisen gehen würde.
Nachdem sie sich eine Weile angeschwiegen hatten und der Buick schon die Yorckbrücken passierte, hatte er ihr die Sache mit Dettmann gebeichtet. Was blieb ihm auch anderes übrig, früher oder später wäre es sowieso herausgekommen, und außerdem hatte er sich fest vorgenommen, ihr gegenüber ehrlicher zu sein, jetzt, wo sie verlobt waren. Wenigstens ihr gegenüber.
»Du solltest dich besser im Griff haben«, hatte sie gesagt.
»Mag sein. Trotzdem hat das Arschloch es verdient.«
Und dann hatte er gesehen, dass Charly, obwohl sie sich alle Mühe gegeben hatte, ein strenges Gesicht aufzusetzen, unter der strengen Maske gegrinst hatte, ihre Augen jedenfalls. Und war sich seither endgültig sicher, mit Dettmann alles richtig gemacht zu haben. Dafür waren ein paar Tage Verbannung ein angemessener Preis. Und einer aus ihrer Ermittlungsgruppe musste ja wirklich in den Osten, da hatte Gennat recht. Warum also nicht der Chef?
Nur aufs Fliegen hätte er verzichten können.
Aber vielleicht gehörte das mit zur Strafe, so sehr hatte der Buddha sich gegen Raths Vorschlag gesperrt, mit dem eigenen Pkw nach Masuren zu fahren.
»Haben Sie eine Ahnung, wie lange Sie da unterwegs sind? Sie brauchen ein Transitvisum. Und die Polen empfangen Sie nicht gerade mit offenen Armen, wenn Sie durch den Korridor wollen. Noch weniger, wenn die in Ihrem Pass lesen, dass Sie Polizeibeamter sind.«
»Haben wir kein Abkommen mit der polnischen Polizei?«
»An der Grenze haben Sie es mit Zollbeamten zu tun, nicht mit Polizisten.«
Der Buddha hatte sich nicht erweichen lassen. Außerdem lag der Flugschein schon auf dem Schreibtisch, und auch sonst schien man alles bereits in die Wege geleitet zu haben für Raths Dienstreise nach Ostpreußen. Gennat hatte ihm ein Kuvert mit den Reiseunterlagen gereicht. »Morgen früh werden Sie im Polizeipräsidium Königsberg erwartet. Melden Sie sich bei Kriminalrat Grunert, der wird Ihnen einen Wagen geben!«
Morgen früh. Da erst war Rath klar geworden, wie schnell sie ihn loswerden wollten.
»Sie haben noch sechs Stunden Zeit«, hatte Gennat gesagt, »dann müssen Sie am Flughafen sein. Und packen Sie etwas Warmes ein. Masuren kann auch im Sommer sehr kalt sein.«
Bevor er nach Hause fahren und Gennats Empfehlung nachkommen konnte, hatte Rath noch bei Polizeivizepräsident Weiß antanzen müssen, der ihm ein Empfehlungsschreiben mit auf den Weg geben wollte. Ein Schreiben, das alle Beamten der preußischen Polizei und der preußischen Landjägerei aufforderte, dem Kriminalkommissar Gereon Rath aus Berlin jede gewünschte Unterstützung zukommen zu lassen.
Während Rath die Zeilen überflog und sich fragte, ob er sich mit solch einer Empfehlung nicht eher unbeliebt machte, hatte Weiß auch schon zu einer politischen Moralpredigt angesetzt.
»Ich möchte, dass Sie sich der Bedeutung bewusst sind, die Ihr Auftreten als preußischer Beamter in dieser Provinz hat.«
»Jawohl, Herr Vizepräsident.«
»Wissen Sie, warum die Regierung Brüning abgetreten ist?«
»Ich interessiere mich nicht für Politik, Herr Vizepräsident.«
»Sollten Sie aber, mein Lieber, sollten Sie! Es geht immer um Politik, in allem, was wir tun, ob wir das wollen oder nicht.«
»Mit
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