Die Akte Veden
blasswangigen Gesichtern zu Loki auf.
»Jetzt-«
Loki brachte den Kommissar zum Schweigen, indem er die Hand hob. »Als ich schließlich gestern bei Ihnen war, haben Sie mich auf die richtige Spur gebracht, Frau Gerber. Haben Sie Eichendorffs Gedicht gelesen, wie ich es Ihnen geraten habe?«
Herr Gerber riss den Blick von Loki los und sah zu Lünsmann hin. »Was soll das alles? Wovon redet er?«
Der Kommissar zuckte die Schultern. »Das wüsste ich auch gerne.« Er sah Loki an. »Was soll das, Sie Irrer?«
»Er macht einen auf Sherlock«, sagte Tim. Als sich alle Köpfe ihm zudrehten, zuckte er die Schultern. »Lassen Sie ihn weitermachen. Ist immer sehr unterhaltsam.«
»Danke, Johnny«, sagte Loki, ehe Lünsmann den Mund aufmachen konnte. »Sie hatten Reste von Wimperntusche im Gesicht, Frau Gerber. Das war der Hinweis. Die roten Flecken auf den Wangen und diese Reste deuteten darauf hin, dass Sie sich abgeschminkt haben, bevor Sie zu mir in den Garten kamen. Verhält sich so eine Frau, die in Sorge um ihr Kind ist?« Loki schüttelte langsam den Kopf. »Eine Mutter, deren Kind verschwunden ist, verhält sich eher so, wie es Eichendorff in seinem Gedicht ›Auf meines Kindes Tod‹ beschreibt. Sie ist voller Trauer und gibt sicherlich nichts auf Ihr Aussehen. Außerdem«, Loki ging zurück zur Zimmerpalme und drückte die Zigarette in der Erde aus, »würde ein solches Ehepaar, das frühmorgens fünf Beamte vor der Tür stehen hat, als erstes fragen: Haben Sie Kevin gefunden ?«
Ein paar Sekunden herrschte Schweigen. Keiner rührte sich.
»Die Wimperntusche war es also, die mir zeigte, dass Sie nicht in Sorge sind«, sprach Loki weiter. »Und was sagt das über Eltern aus, die ein Kind vermissen? Es könnten verantwortungslose Eltern sein, vielleicht sogar solche, die für den Tod ihres Kindes selbst die Schuld tragen. Aber dazu gehören Sie nicht. Ihr Haus ist außen wie innen vollkommen auf Kinder ausgerichtet, Sie haben Ihre Tochter von mir ferngehalten, um sie zu schützen. Nein, das trifft nicht auf Sie zu. Was bleibt also übrig?«
Eine rhetorische Frage, niemand sagte etwas.
Loki lächelte sein Fuchs-Lächeln. »Sie sorgen sicht nicht, denn Sie wissen ganz genau, wo Kevin ist.«
Alle Köpfe drehten sich den Gerbers zu. Zuerst schien es, als wolle der Mann etwas sagen, aber als seine Frau neben ihm das Gesicht in den Händen verbarg, gab er jeden Widerstand auf. Er streckte eine Hand nach seiner Frau aus und legte sie ihr beruhigend auf die Schulter. Als sein Blick Loki fand, standen ihm Tränen in den Augen.
»Wo ist er, verdammt?« Lünsmanns Stimme klang dieses Mal nicht ganz so barsch.
»In Schweden, bei seiner Großmutter«, antwortete Loki. Er schob die Hände in die Hosentaschen. »Sie wollen mehr wissen? Gern! Herr Gerber hat eine Buchhandlung in der Kieler Innenstadt. Er hat sich auf das Antiquariat spezialisiert. Leider steuert dieses Gewerbe auf eine Sackgasse zu, die modernen Techniken überholen das gedruckte Buch und hinterlassen ein Schlachtfeld aus Papierstapeln, leeren Buchhandlungen und roten Zahlen auf den Konten derer, die sich in diesem Metier niedergelassen haben. So auch auf Herrn Gerbers Konto.«
Wieder griff er in seine Hosentasche und zog ein noch schlimmer zerknülltes Papier hervor, das er Lünsmann reichte. Der Kommissar fing an, den Zettel aufzufalten.
»Der Gewerbeschein und auf der Rückseite ein aktueller Kontoauszug. Wieder für Ihre Unterlagen, um Ihnen die Arbeit zu erleichtern, Herr Lünsmann.« Loki grinste zufrieden in die Runde. »Nun, vor einem Jahr – im Februar, um genau zu sein – schlossen die Gerbers eine Lebensversicherung auf ihre Kinder ab. Im Grunde eine absurde Idee, heutzutage auf diese Weise Geld anzulegen, doch für ihre Zwecke genau richtig. Warum auf die Kinder, fragen Sie? Ganz einfach: Die Gerbers leben in einer Gütergemeinschaft. Sämtliche Schulden, die sie angehäuft haben, gehören damit beiden. Hätte einer der Eheleute seinen Tod vorgetäuscht, wären die Schulden nicht beglichen gewesen. Außerdem hängt Herr Gerber an seiner Buchhandlung – ich glaube, heute kann man dazu bereits getrost Nostalgie sagen.« Loki sah zu dem Familienvater hin. »Physische Bücher sind out. Gehen Sie mit der Zeit!«
»Können wir die Marktanalyse auf einen späteren Zeitpunkt verlegen?«, fragte Lünsmann.
»Sehr gerne. Wann würde es Ihnen passen?«
Der Kommissar musste jetzt selber grinsen, obwohl er sich sichtlich dagegen sträubte. Er sah
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