Die Akte Veden
Ich fing an, an der Imagination zu zweifeln und erkannte, dass ich mich nicht mehr in der Realität befand. Als ich einen kurzen Augenblick, nur einen Moment lang, aus ihr erwachte, befahl ich dem Butler, sofort die Vereinigung anzurufen und nach einem Psychiater zu fragen, der sich damit auskennt. Ich habe den armen, alten Butler fast zu Tode erschreckt.« Wieder das freudlose Lächeln. »Aber er tat, was ich wollte, und einen Tag später riss mich der Psychiater mithilfe von Medikamenten endgültig aus dieser Traumwelt.« Veden streckte den Arm aus, zog eine Schublade aus dem Schreibtisch und nahm ein Päckchen mit Tabletten hervor, hielt sie in die Höhe. »Ich nehme sie jeden Tag, damit ich nicht wieder in diesen Wahnsinn abdrifte. Seitdem habe ich keine Sekunde mehr eine Imagination durchgeführt – ich lehre sie nicht, und ich praktiziere sie nicht. Ich mache nicht einmal das Kinhin. Ich gehe nur noch dem Kampfsport nach, das ist alles.«
»Darf ich?« Loki ließ sich vom Direktor die Tablettenschachtel in die Hand legen, drehte sie um und betrachtete sie. Er gab sie wieder zurück. »Das ist ein Medikament gegen Psychosen.«
Veden nickte und verstaute sie wieder in der Schublade. »Menschen nehmen sie gegen Psychosen, bei uns Outsidern wirken sie gegen geistige Gaben. Sie legen sie lahm. Ich bin nicht der einzige, der seiner Fähigkeit zum Opfer fällt und die Kontrolle über sie verliert.«
»Haben Sie vergessen, die Tabletten zu nehmen? Ist vielleicht deshalb diese Imagination wiedergekommen, sodass sie sogar Menschen verschluckt?« Tim fiel es schwer, über dieses Zeug zu sprechen – ihm wollte es einfach nicht eingehen, dass das möglich sein konnte. Ein irrer Outsider war eine Sache, okay, aber einer, der unabhängige Welten erschuf und damit in die Realität eingriff? Unvorstellbar.
Veden zog tief Luft ein. »Es ist beinahe unmöglich, dass ich das vergesse. Hier in der Schule erinnert mich Frau Benz, daheim meine Haushälterin. Außerdem habe ich zusätzlich einen Alarm in meinem Handy aktiviert, der zehn Minuten später losgeht, falls ich es doch einmal versäumt habe. Ich müsste mich an eine Imagination erinnern können, aber die letzte Erinnerung an diese abscheuliche Welt endet exakt elf Monate und dreizehn Tage nach dem Unfall, als mich der Psychiater erlöst hat.« Der Direktor befeuchtete sich die Lippen mit der Zunge. »Dennoch: Alles, was Sie erzählt haben über diesen Zombie weist auf mich hin.« Er schluckte schwer, der Adamsapfel vollführte seinen Tanz. »In einer Imagination, in der ersten Schicht, suchten Hora und ich einen Menschen heim. Wir gingen zu ihm in die Wohnung, hängten ihn über seiner Badewanne auf und schlitzten ihm den Bauch auf, sodass die Gedärme heraushingen. Wir sahen zu, wie er verblutete.« Jetzt weinte Veden hemmungslos. »Das kann kein Zufall sein.«
Tim hatte schon viele Verbrecher mit einem unglaublichen Schauspieltalent gesehen, war oft genug auf sie hereingefallen, aber der Verbrecher hier sagte die Wahrheit. Er glaubte ihm. Veden war ein gebrochener Mann, fertig gemacht von seiner eigenen Gabe, die sich verselbstständigt hatte. Es tat ihm leid, dass der Direktor jetzt auch noch Schuld war am Verschwinden so vieler Menschen, ganz zu schweigen vom Tod der beiden, die bisher aufgetaucht waren, aber er musste eingesperrt, vielleicht sogar exekutiert werden. Aber das war nicht ihre Entscheidung, das würde das Oberste Gericht beurteilen müssen. Jedenfalls war Veden gefährlich. So viel war klar.
Sie schwiegen. Veden hatte das Gesicht in den Händen vergraben und weinte leise, während Loki wieder zum Fenster hinaussah. Alle warteten darauf, dass letzterer etwas sagte.
»So einen Zufall gibt es nicht, das denke ich auch.« Loki sah den Direktor an. »Wer weiß von Ihrer Krankheit, Sir Veden?«
Der Direktor zog ein Taschentuch aus der Hosentasche, wischte sich erst über die Augen und die Wangen, schnäuzte sich dann. »Niemand. Ich schäme mich sehr dafür. Meine Eltern und mein Lehrer Sir Crawn wussten es, aber die sind alle schon verstorben. Es lebt nur noch der Psychiater, ansonsten weiß es niemand.«
»Ihre Haushälterin und Frau Benz?«
»Nein, sie wissen es nicht. Sie wissen nur, dass ich Tabletten nehme, mehr nicht.«
Wieder folgten einige Sekunden Schweigen. Lokis Augen waren fest auf Veden gerichtet. Tim fragte sich schon, worauf sein Cousin wartete, als der endlich weitersprach.
»Können Sie mir einen Lieferdienst empfehlen, der gute
Weitere Kostenlose Bücher